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„Vertrauen“ ist mein zweites Buch des israelischen Autors Dror Mishani. Vom Vorgänger „Drei“ war ich begeistert. Eine ungewöhnliche und sehr fein erzählte Geschichte, die erst spät Zusammenhänge offenbart und auf leise Art fesselt. Toll!

„Vertrauen“ ist anders und doch wieder ähnlich. Der deutlichste Unterschied: Der Polizeiermittler, der in „Drei“ nur eine Nebenrolle einnimmt, ist hier eine zentrale Figur. Die Geschichte – das wusste ich anfangs nicht – ist Teil einer Reihe und damit näher am klassischen Kriminalroman.

Schließt sich der Kreis?

Sie wird aus zwei Perspektiven erzählt. Inspektor Avi Avraham ermittelt im Fall eines verschwundenen Touristen. Nachdem die Indizien recht bald in eine bestimmte Richtung weisen, muss er sich fragen, ob der Fall nicht eine Nummer zu groß für ihn ist und ringt um eine Entscheidung. Diese wird ihm alles andere als leicht gemacht.

Im zweiten Handlungsstrang berichtet uns Liora, Mutter mehrerer Töchter, wie sie ein Neugeborenes aussetzt und anschließend die Befragung durch die Polizei erlebt. Das alles gespickt mit Details aus ihrem Leben und ihrer Vergangenheit. Liora irritiert in ihrer Art und gibt dem Leser Rätsel auf. Man bekommt sie nicht zu fassen. Ihre Beziehung zum ausgesetzten Baby ist zunächst unklar. Sympathisch ist Liora nicht.

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Ich bin von einem Zusammenhang der beiden Fälle ausgegangen und grübelte die ganze Zeit, worauf wohl alles hinausläuft. Erwartet die Leser am Ende ein raffinierter Twist?

Eloquent erzählt, nicht leicht zu überblicken

Das möge jeder für sich selbst herausfinden. Ich fand die Geschichte nicht ganz so beeindruckend wie „Drei“, aber trotzdem sehr schön erzählt. Der Text fließt dahin, die Krimielemente sind einerseits klassisch (Zeugenbefragungen, Tatorte aufsuchen usw.), jedoch nicht in der Weise überzeichnet, wie man es von Agatha Christie kennt. Georges Simenon, Henning Mankell – das sind Mishanis Vorbilder. Sein Stil ist eloquent, aber nicht abgehoben. Wortgewandt, ruhig, gemächlich, zugänglich. Sein Fokus liegt auf den Menschen, auf ihren Beweggründen, die selbst bei näherem Hinsehen nicht immer nachvollziehbar sind und sich oft nur aus den Lebensumständen heraus erklären.

Dem Buch haftet eine gewisse Fragmenthaftigkeit an, die lediglich durch bestimmte verbindende Leitgedanken überwunden wird, die erst nach den letzten Seiten in greifbare Nähe rücken. Das mag etwas unbefriedigend sein. Mich hat es nicht gestört. Das titelgebende Motiv „Vertrauen“ taucht auf unterschiedliche Weise auf. Allgemein gesprochen kann Vertrauen eine äußerst subjektive und vertrackte Angelegenheit sein. Vor allem, wenn Autoritäten im Spiel sind. Vermeintliche Verpflichtungen werden womöglich zu Gewissensfragen, die einen Vertrauensbruch nötig machen. Auch Avi Avraham gerät in eine solche Zwickmühle. Und ja, ich weiß, das ist sehr kryptisch ausgedrückt. Aber es soll ja nicht zuviel verraten werden.

Daneben fließen israeltypische Themen ein, etwa die schwierige Beziehung zwischen Juden und Arabern. Erschwert wird das Lesen ein wenig durch die Fülle an Namen. „Vertrauen“ ist (wie erwähnt) Teil der Krimireihe um Inspektor Avi Avraham, aber nicht sein erster Fall. Der erste Band wurde wohl erstmals 2013 veröffentlicht und wird von Diogenes erst im Herbst 2022 neu herausgebracht. Das erklärt die verwirrende Selbstverständlichkeit, mit der viele Personen vorgeführt, aber keineswegs eingeführt, werden.

Der nächste/erste Band heißt dann „Vermisst“. Ich freue mich darauf, wenngleich „Drei“ einen größeren Eindruck hinterlassen hat.

 

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Vertrauen von Dror Mishani
Originaltitel: ‎ Emuna
Übersetzung: Markus Lemke
Verlag: Diogenes
Erschienen: 23. Februar 2022
Hardcover: ‎ 352 Seiten
ISBN: ‎ 978-3257071771

One Reply to “[Rezension] „Vertrauen“ von Dror Mishani”

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