"Die Reise der Amy Snow" von Tracy Rees
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Habt
ihr auch alle Jane-Austen- und Brontë-Romane
mindestens dreimal gelesen? Habt ihr mitgefiebert, mitgelitten und mitgejubelt
mit den Cathrine Earnshaws, Elisabeth Bennets und Jane Eyres dieser Welt?
Als ich
zum ersten Mal „Stolz und Vorurteil“ gelesen habe, war es wie eine Offenbarung
– die geschliffene Ausdrucksweise, der feine Sprachwitz und (na gut, ich gebe
es zu) Mr. Darcy, natürlich Mr. Darcy! Ich habe mich regelrecht in diese Zeit
verliebt – Anfang, Mitte des 19. Jahrhunderts, als Männer entweder Schufte oder
echte Gentlemen waren, Frauen jedes bisschen Freiheit hart erkämpfen mussten,
aber die Liebe so rein und wahrhaftig war, dass sie alle Widerstände überwinden
konnte (zumindest im Buch). 

Aber
was nun? Soll es das gewesen sein? Muss ich bis in alle Ewigkeit meine
zerfledderten Taschenbücher wieder und wieder lesen? Oder gibt es Autorinnen,
denen es auch heute noch gelingt, einzigartige Frauengestalten und
ungewöhnliche Liebesgeschichten vor historischer Kulisse zu erschaffen? Das
fragte ich mich, als ich mit dem Romandebüt „Die Reise der Amy Snow“ der
Engländerin Tracy Rees begann. Denn der Vergleich mit den alten Klassikern
drängt sich zwangsläufig auf:

Amy
Snow verdankt ihren Nachnamen dem Wetter und der Lieblingspuppe der
achtjährigen Aurelia Vennaway, die Amy als Säugling nackt im Schnee findet und
mit nach Hause nimmt. Zu einem hohen Preis: Aurelias Eltern, Lady und Lord
Vennaway, scheinen Amy regelrecht zu hassen. Sie erlauben Aurelia zwar Amy zu
„behalten“, beharren aber darauf, dass das Kind in der Küche leben muss und
ihnen niemals unter die Augen treten darf. Teils Aschenputtel, teils Jane Eyre
wächst die Waise Amy in einem Klima völliger Gefühlskälte bei den betuchten
Vennaways auf. Gleichzeitig überhäuft die kleine Aurelia Amy mit vorbehaltloser
Liebe – sie ist ihr große Schwester, Freundin, Mutter und Mentorin zugleich. So
wird das Band der beiden Mädchen zum Entsetzen von Aurelias Eltern mit den
Jahren immer stärker.
Der emotionale Faktor der Geschichte ist zu Beginn groß
und steigert sich, als Aurelia Mitte zwanzig an Herzschwäche stirbt und Amys
zarter, behütender Kokon zerplatzt – die Vennaways warten gerade einmal die
Testamentseröffnung ab, dann werfen sie Amy aus dem Haus. Doch Aurelia hat
vorgesorgt. Mittels Briefen nimmt sie Amy (und uns Leser) mit auf eine
geheimnisvolle Schnitzeljagd quer durch England, an deren Ende ein Geheimnis
wartet.

Wenn
das Buch vom Verlag nicht so geschickt beworben worden wäre, wäre es mir wohl
nicht aufgefallen. Die angekündigte Schnitzeljagd jedoch rief in mir sofort die
alte Drei-Fragezeichen-Spürnase auf den Plan. Aber, um es gleich vorwegzunehmen:
Die rätselhaften Briefe, die Aurelia hinterlässt, sind allein für Amy bestimmt.
Der Leser hat keine Chance, hier als Watson behilflich zu sein. Dennoch wirken
die Briefe hervorragend als roter Faden – sie führen die realitätsfremde Amy in
die große Welt, legen kleine und große Geheimnisse frei und sind für Amy Stütze
und Sinnhaftigkeit in einer Situation völliger Ungewissheit.

Bis
zur Hälfte hat mich Amys Geschichte regelrecht gefangen genommen. Weil der
Erzählstil sehr angenehm ist (wenngleich häufig zu modern für die Epoche), habe
ich das Buch nach Lesepausen immer wieder gerne zur Hand genommen, habe hier
und da gelächelt, ab und zu ein Tränchen verdrückt und mich gefragt, welche
Geheimnisse es wohl zu lüften gibt.

Zunehmend
erstaunlich fand ich allerdings, wie wenig Bezug man zu dem Charakter Amy Snow
entwickelt. Amy ist eine talentierte Erzählerin, doch durch eine
außergewöhnliche Persönlichkeit glänzt sie beileibe nicht. Fast alle anderen Figuren
sind stärker konturiert. Die lebhafte Aurelia, die hartherzige Lady Vennaway
und später die spöttisch-schlaue Mrs Riverthorpe. Was hat Amy ihnen entgegenzusetzen?
Hartnäckigkeit und Vertrauen, die leider immer wieder ins Wanken geraten.
Ansonsten vornehmlich Nettigkeit.

Anfangs störte mich Amys schwache
Charakterzeichnung nicht, denn ich rechnete fest mit einer Entwicklung
(schließlich impliziert eine Reise eine Veränderung, oder nicht?). Doch leider
hat Tracy Rees ihre Protagonistin kaum weiter ausgearbeitet. Bei Jane Austen
mit ihrer Liebe für Überzeichnungen und außergewöhnliche Persönlichkeiten hätte
es Amy Snow wohl nicht einmal zur Nebenfigur geschafft.

Dann
verliebt sich Amy. Und ohne zu viel verraten zu wollen … ab hier habe ich den Draht zu der
Erzählerin verloren. Zum einen fiel nun die fehlende Weiterentwicklung
von Amy deutlich ins Gewicht, zum anderen breitete sich die Liebesgeschichte so
fade, temperamentlos und langatmig vor mir aus, dass ich immer wieder einmal
ein paar Seiten überblätterte. Allein der sarkastische Charakter Mrs
Riverthorpe hat mich über diese Strecken hinweg gerettet. 

Das
Buch findet dann auch leider nicht zu anfänglicher Stärke zurück, sondern
steuert – im Gegenteil – zielgenau in immer seichtere Gewässer. Es war so, als
würde die Handlung bereits ab der Mitte langsam ausplätschern. Konflikte,
Reibungen, Enttäuschungen; all die Hürden, die ich eigentlich erwartet hatte,
wurden immer niedriger und niedriger. 
Das Rätsel der Briefe – das muss ich zugeben – wird am Ende zwar stimmig
aufgelöst, die Lösung aber wurde zu früh angedeutet, um die Geschichte
wenigstens mit einem Aha-Effekt ausklingen zu lassen.

Die
Frage ist, welcher Eindruck bleibt am Ende von dem Buch? „Die Reise der Amy Snow“ ist Gewinner eines britischen Schreibwettbewerbs und hat
bereits viele gute Kritiken eingeheimst. Es scheint also für viele
Leser(-innen) insgesamt eine schöne Lektüre zu sein. Für mich hat sie einen
eher bitteren Beigeschmack: Die tolle Idee einer ungewöhnlichen Frauenfreundschaft
kombiniert mit einer rätselhaften Schnitzeljagd verblassten zunehmend vor der
mangelnden Entwicklung der Hauptfigur, den vielen Längen und seichten Passagen.
So leid es mir tut: Am
Ende war das Buch näher an einem Heft- als an einem Bildungsroman.

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Die Reise der Amy Snow von Tracy Rees
Originaltitel: Amy Snow
Übersetzer: Elfriede Peschel
Broschiert: 476 Seiten 
Verlag: List 
Erscheinungsdatum: 14. März 2016 
ISBN: 978-3471351369

2 Replies to “[Rezension] „Die Reise der Amy Snow“ von Tracy Rees

  1. Schade, so viel verschenkt anscheinend. Aber wie immer nicht schade um deine Rezi! Das Cover ist toll und macht gleich Lust auf Herbst und warme Decken. Aber dann schaue ich lieber in warmen Decken aus dem Fenster. 😉

  2. … oder in das Hauptquartier der Geisterjäger? 😉 Dann gibt es ja bald endlich wieder Rezensionen von dir!!! Ich habe schon Entzugserscheinungen.

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