"Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek" von David Whitehouse, Roman
Copyright: Tropen Verlag 

Ich bin ein Tagträumer. Wenn mir der Alltag etwas zu viel
wird, gebe ich mich gerne Tagträumen hin und stelle mir die unmöglichsten Dinge
vor. Meistens, wie es wäre, die Welt auf vier Rädern zu bereisen und fremde
Länder zu entdecken. Natürlich dürfen bei so einer langen Reise meine Bücher
nicht fehlen. Doch wie soll man diese bloß alle transportieren? Da wäre ein
großer Bus mit einer integrierten Bibliothek die beste Lösung. Träume sind
Schäume … nicht immer, denn in meiner letzten Lektüre durfte ich mit außergewöhnlichen
Menschen in eben so einem Bus reisen und eine wunderschöne Geschichte erleben.

Bobby Nusku ist einer dieser außergewöhnlichen Menschen. Er
ist ein sehr einsamer Junge, dessen Tageinhalt aus dem Sammeln von Haaren oder
dem Ausschneiden von kleinen Stofffetzen aus der Kleidung seiner verschwundenen
Mutter besteht. Fein säuberlich wird alles archiviert, um es ihr bei ihrer
herbeigesehnten Rückkehr zu präsentieren. Seitdem sie fort ist, führt Bobby ein
Leben als unsichtbarer Schatten seiner selbst, denn im Haus seines grobschlächtigen
Vaters gilt es, jedem Ärger aus dem Weg zu gehen. Aber auch außerhalb dieses
Hauses lebt Bobby ein Außenseiterleben. Nur die Freundschaft zu Rosa, einem
Mädchen aus der Nachbarschaft, gibt ihm neuen Mut. Rosa hat all das, wovon er
immer geträumt hat: eine liebevolle Mutter und einen Zugang zu einem Bus, der
ihn überall hinfahren kann und der bis unter die Decke mit guten Büchern gefüllt
ist. Doch in einem unaufmerksamen Moment verliert Bobby seine Fähigkeit sich
unsichtbar zu machen und die Ereignisse überschlagen sich auf dramatische
Weise. Seinen einzigen Ausweg sieht er in der Flucht vor seinem alkoholkranken Vater
und seinem gewohnten Leben und begibt sich auf eine turbulente Reise quer durch
England mit Rosa, ihrer Mutter und dem gestohlenen Bücherbus.


Wir Leser werden durch den imposanten und bildhaften Schreibstil
von David Whitehouse zu einem stummen Reisebegleiter und erleben viele Höhen
und Tiefen einer Schicksalsgemeinschaft von Menschen, die ihr bisheriges Leben auf
der Schattenseite der Gesellschaft verbracht haben. In gewaltigen Kulissen
erfahren wir, wie die divergenten literarischen Figuren während dieser Fahrt im
Bücherbus zueinanderfinden, ihre Erlebnisse aus der Vergangenheit miteinander
teilen und jeden Tag etwas näher zusammenrücken. Auch wenn die Protagonisten
allesamt sehr verschieden sind, vereinen sie zwei Tatsachen: Sie sind auf der
Suche nach einem Zuhause, in dem sie geliebt werden und sie lieben wundervolle
Geschichten. Deswegen ist „Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ auch eine kleine
Expedition durch viele Klassiker der Weltliteratur.

Nur schwer lässt sich die literarische Figur Bobby Nusku
beschreiben, denn sein Charakter ist, wie bei allen Figuren in diesem Buch,
sehr komplex und facettenreich gezeichnet. Zu Beginn wirkt Bobby Nuskus ungewöhnliches
Benehmen etwas befremdlich, aber im Laufe der Geschichte erfährt man,
warum er oft so unsicher und überspitzt agiert. Für Bobby ist diese Fahrt fast
so etwas wie eine Reise zu sich selbst, denn er wächst an den vielen
komplizierten Ereignissen, legt viele Eigenschaften, die ihm das Schicksal
auferlegt hat, ab. Am Ende fühlt er sich nicht mehr wie ein Fremdkörper dieser
Welt und erlaubt sich einfach, etwas glücklich zu sein.


„Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ ist eine sehr
tiefgründige Geschichte von der Härte des Lebens und wie man ihr entfliehen kann.
Durch seinen hervorragenden Schreibstil lädt Whitehouse den Leser in vielen
Passagen zum Verweilen und zu einer tieferen Betrachtung ein.

Wenn eine Geschichte mit dem eigentlichen Ende beginnt, ist
das für mich als Leser immer etwas schwierig. Schwierig, weil ich mich das
Gelesenene während der ganzen Geschichte begleitet und ich etwas voreingenommen
an das Geschehen und seine literarischen Figuren herangehe. Mich beschäftigt
oft auch die Frage: Wie konnte es bloß zu diesem Ende kommen? Meist kann ich
mich dann nur schwer auf das Geschehen konzentrieren, ohne es mit dem Ende zu
vergleichen. In „Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ erging es mir wieder
einmal so. Doch am Ende kommt es dann anders, als ich es vermutet hatte.

„Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ von David
Whitehouse ist trotz meines kleinen Kritikpunktes eine außergewöhnliche
Geschichte über Freundschaft, das Leben, seine mühsamen Herausforderungen und
wie man an ihnen wachsen kann.


Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek von David Whitehouse
Originaltitel: Mobile Libary 
Gebundene Ausgabe: 314 Seiten 
Verlag: Tropen
Erscheinungstermin: 21. Februar 2015 
ISBN: 978-3608501483

2 Replies to “[Rezension] „Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ von David Whitehouse

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert