"Das Jahr, in dem ich lügen lernte" von Lauren Wolk, Roman
Copyright: Hanser

Amerika 1943: Die elfjährige Annabelle lebt gemeinsam mit ihrer großen Familie (Vater, Mutter, Opa, Oma, Tante und zwei Brüder) in einem kleinen, beschaulichen Dorf. Das Ungewöhnlichste hier mag wohl der stille Außenseiter und Kriegsveteran Toby sein, der sich in einer Hütte in den Wäldern niedergelassen hat. Eines Tages bekommt die Gemeinde einen weiteren Zuwachs: Die als schwererziehbar geltende Betty wird zu ihren Großeltern aufs Land geschickt und erscheint kurz darauf in der Schule. Vom ersten Moment an triezt sie ihre Schulkameraden und hat es besonders auf Annabelle abgesehen, der sie auf dem Schulweg regelmäßig auflauert.

Mit Betty hat Lauren Wolk eine Figur erschaffen, die im Leser die dunkelsten Gefühle provoziert – Empörung, Wut und abgrundtiefe Abneigung. An Betty gibt es keine Grautöne zu entdecken, keine noch so winzige positive Eigenschaft. Sie ist fies, RICHTIG fies! Und sie tut Dinge, die abscheulich sind. So abscheulich, dass die Geschichte sich bald nervenzerrend liest wie ein Krimi. Bettys Handeln ist kriminell. Sie übt Druck und Gewalt aus und – was mindestens ebenso schlimm ist – sie lügt, verleumdet Menschen, sät Misstrauen und setzt damit Gefühle in der kleinen ländlichen Gesellschaft frei, die bisher am Rande des Bewusstseins geschwelt haben, sich nun aber offen bahnbrechen und bald zu ungeahnter Dramatik führen.

Zwischendurch war es schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Denn die Fragen, die den Leser durch die Handlung jagen, sind scharf und brennend. Man möchte wissen, warum Betty ist wie sie ist. Ob es dafür eine Erklärung gibt, einen nachvollziehbaren Grund. Man möchte wissen, wie weit sie gehen wird. Und vor allem: ob sich Annabelle gegen sie behaupten kann. Denn Annabelle ist ein liebes, vernünftiges Mädchen, eine sympathische (teilweise fast schon zu erwachsene und korrekte) Protagonistin, der man vollsten Herzens beistehen möchte. Nach und nach schiebt sich dann die geheimnisvolle Figur des Toby in den Vordergrund. Ein Einsiedler, anders, seltam, zwielichtig. Toby streift, behängt mit drei Gewehren und einer Kamera durch die Wälder. Er sieht, hört und fotografiert alles. So durchschaut er Betty von Anfang an. Welche Rolle hat die Autorin ihm in der Geschichte zugedacht? Eine weitere Frage. Der für die deutsche Übersetzung gewählte Titel („Das Jahr, in dem ich lügen lernte“) ist hierbei nicht unsinnig, aber auch etwas irreführend. Er drängt sich nicht zwingend auf, macht aber neugierig.

„Das Jahr, in dem ich lügen lernte“ entwickelt sich auf eine Weise, die ich nicht voraussehen konnte und schließlich mit einer Heftigkeit, von der ich nicht sicher bin, ob sie notwendig gewesen wäre. Am Ende war ich platt! Lauren Wolk erzählt unschuldig, kindlich, teilweise liest sich das Buch wie ein spannendes Kinderabenteuer. Mit seinen vielen ländlich-idyllischen Szenen teilweise auch wie eine Folge von „Die Waltons“ oder „Unsere kleine Farm“. Davon sollte man sich nicht täuschen lassen.

Zu einem Hauptmotiv wird die Angst vor der Andersartigkeit. In der Umsetzung arbeitet Lauren Wolk viel mit Schwarz-Weiß-Tönen, denen an einigen Stellen Schattierungen gut getan hätten. Negatives (hier in der Figur Betty) wird ebenso zugespitzt wie Positives (Annabelle) und lässt die Protagonisten scharf am Klischee vorbei schrappen. Für jugendliche Leser lässt sich mit derart heldengleichen bzw. schurkenhaften Charakteren natürlich wunderbar mitfiebern. Es darf gehasst und geliebt werden. Und es bleibt viele Seiten lang äußerst spannend.

Schade nur, dass die Autorin im letzten Drittel dann wieder zu einer etwas ausschweifenden, behäbigen Erzählweise zurückfindet, die mir auch auf den ersten Seiten aufgefallen ist. Gegen Ende verliert die Geschichte an Tempo, wird zu detailliert erzählt, was gerade in einem Finale wenig Sinn ergibt und das Leseerlebnis ein klein wenig trübt.

Fazit: „Das Jahr, in dem ich lügen lernte“ ist eine Geschichte mit Diskussionspotenzial – über die Angst vor dem Fremden, die Gefahr von Vorurteilen und die Wichtigkeit von mutigem Einstehen für andere. Und ganz nebenbei auch über die Fallstricke von Lügen. Spannend und aufwühlend. Lässt aber mitunter Grautöne und gegen Ende das Tempo vermissen.

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Das Jahr, in dem ich lügen lernte von Lauren Wolk
Originaltitel: Wolf Hollow
Übersetzer: Brigitt Kollmann

Gebundene Ausgabe: 272 Seiten
Verlag: Carl Hanser Verlag 
Erscheinungstermin: 30. Januar 2017
ISBN-13: 978-3446254947
Altersempfehlung: 12 – 15 Jahre

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