„Das Haus der verschwundenen Kinder“ von Claire Legrand, Kinderbuch
Copyright: Heyne

Victoria ist Klassenbeste und obendrein immer perfekt gekleidet, pünktlich und wohlerzogen – wie alle neureichen Einwohner des Bilderbuch-Ortes Belleville. Befreundet ist Vicotoria mit Lawrence, der sich so gar nicht in das einheitliche Hochglanz-Bild Bellevilles einfügen will: er spielt Klavier, summt zu unangebrachten Zeiten und ist nachlässig in allen Dingen, die nichts mit Musik zu tun haben. Womöglich will er dieses überflüssige Kreativfach später einmal studieren, anstatt so etwas anständiges wie Arzt oder Anwalt zu werden – Berufe, die sich für Bellviller gehören. Als Lawrence eines Tages verschwindet, fallen Victoria immer mehr Seltsamkeiten im Städtchen auf – mysteriöse Schaben, gleichgültige Eltern und über allem Mrs. Cavendishs Erziehungsanstalt für Jungen und Mädchen, zu dem alle Spuren von Lawrence‘ Verschwinden führen. Vicotira beginnt, Nachforschungen anzustellen – und begibt sich mit ihrer plötzlichen Andersartigkeit in größte Gefahr…

Schon der Klappentext prophezeit vergnügliche Lesestunden: „Ausgezeichnet als bestes Jugendbuch 2012“, heißt es dort – verschwiegen wird zunächst, dass es sich hierbei um eine Auszeichnung der „New York Public Library“ handelt. Eine beigelegte Postkarte garantiert: „Dieses Buch hat das Zeug zum Klassiker“; auf dem Waschzettel wird „ein gruselig packendes Lesevergnügen mit Gänsehautgarantie“ und „Lesepaß mit Gruselfaktor“ gelobt. Da muss man doch einfach zugreifen – zumal als Grusel- und Jugendbuchfan. Umso enttäuschender ist die Kluft zwischen Versprechen und Wirklichkeit, denn tatsächlich erwartet den Leser im ersten Teil grausame Langeweile und im zweiten verstörender – und wenig kindgerechter – Albtraum-Ekel.

Die Handlung folgt anfangs der äußerst unsympathischen, hochnäsigen Protagonistin Victoria durch ihr allzu perfektes Leben und ihre welterschütternden Probleme (eine Zwei im Zeugnis), unterbrochen von gelegentlichen Hass-Tiraden auf ihren unordentlichen Freund Lawrence. Als dieser verschwindet, fällt der jungen Dame auf, wie sehr sie ihn eigentlich trotz seiner unangenehmen Individualität gemocht hat und beginnt eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln – womit sie in das Zielfernrohr gewisser Feinde gerät: Mrs. Cavendish und ihre fiesen Helfer sind fortan hinter Victoria her. Die Heimleiterin foltert „verkommene Subjekte“ (Kinder mit schlimmen Eigenschaften wie Neugier, Fresssucht, Ungepflegtheit, Kreativität etc.) in ihrem Heim und verwandelt sie bei Nichtbesserung in willenlose Monster, die an andere Heimkinder verfüttert werden. Ja, ganz richtig gehört: Sadismus, Folter, Psychoterror und Kannibalismus sind die dominierenden Aspekte der zweiten Hälfte dieses im doppelten Wortsinn grausamen Buches. Natürlich kontrolliert Mrs. Cavendish die Eltern dieser reizenden Stadt, die als fremdgesteuerte Marionetten nichts von der ganzen Sache mitbekommen. Erwachsene die wie Victoria helfen wollen, werden umgebracht und zieren als verwesende Baumwesen den Garten der Anstalt. Victoria und den Heimkindern gelingt es letztendlich die böse Hexe in die Flucht zu schlagen, aber ein Happy End gibt es nicht, denn Mrs. Cavendish steht schon bald darauf wieder vor der Tür…

Das „Zeug zum Klassiker“? Wohl kaum – Klassiker sind schon die wesentlich besser umgesetzten Vorlagen, von denen die Autorin sich hat inspirieren lassen. „Gänsehautgarantie“ trifft es da schon eher – doch leider nicht im positiven Wortsinn. Denn der einigermaßen originelle Aspekt dieser Geschichte, die roboterhafte Bilderbuchkleinstadt mit Horror-Ambiente, ist altbekannt und zahlreich umgesetzt worden; am bekanntesten wohl in dem Film „Die Frauen von Stepford“. Obwohl die Autorin ein Talent für atmosphärische Inszenierungen hat, bleibt die Spannung im ersten Teil des Buches vollkommen auf der Strecke. Nicht zuletzt aufgrund der einheitlich unsympathischen Protagonisten interessiert man sich partout nicht für den Fortgang der Geschichte und das vielgespriesene „Lesevergnügen“ wird zur Qual. Der zweite Teil ist so grausam und verstörend, dass man sich dieses Buch nur schwerlich in (zwölfjährigen!) Kinderhänden vorstellen möchte und das Ende schließlich ist vollends deprimierend. Einzig Illustration und Aufmachung sind ein Augenschmaus. „Hüte dich vor den Erwachsenen!“ steht in Großbuchstaben über dem Klappentext. „Hüte dich vor falschen Versprechungen!“ ist mein Credo für irreführende Werbeangaben und zuvielversprechende Klappentexte. 

„Das Haus der verschwundenen Kinder“ von Claire Legrand
Hardcover: 320 Seiten
Verlag: Heyne fliegt/Randomhouse
Erscheinungstermin: 25. August 2014
ISBN: 978-3453267787

2 Replies to “[Rezension] „Das Haus der verschwundenen Kinder“ von Claire Legrand

    1. Die Protagonisten allein sind nicht das Problem – hier sind Sympathien sicherlich auch unter Lesern verschieden -, sondern vor allem die ungünstige Mischung aus fehlender Innovation und Spannung, bizarren Ekel-Szenarien und wenig origineller Moral. Vor allem die extremen Längen stören den Lesefluss so nachhaltig, dass alle Negativ-Aspekte (vielleicht heftiger als nötig) ins Gewicht fallen. Schade!

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