Diese Rezension schmerzt. Dreiviertel von Ursula Poznanskis neuem Jugendthriller „Shelter“ ist – mit nur winzigen Abstrichen – großartig. So toll, dass ich sicher war, hier fraglos eine Fünf-Sterne-Perle in den Händen zu halten. Und dann? Absturz im letzten Drittel. Es fällt mir nicht leicht, diese Zeilen zu schreiben. Aber der Reihe nach. „Shelter“ beginnt klasse und bleibt es auch lange.
Eigentlich sollte es nur ein Scherz sein: Benny und seine Freunde denken sich eine völlig irre Verschwörungstheorie über Außerirdische aus, die den Körper von Menschen übernehmen und sich auf der Erde breit machen. Wird sich die Geschichte über die sozialen Medien herumsprechen? Werden sich Bekloppte finden, die sie glauben? Gespannt wartet die Clique ab, was passiert. Und tatsächlich: Immer mehr Leute nehmen die Sache für bare Münze. Benny hat bald ein ungutes Gefühl und möchte alles aufklären, aber die Verschwörungstheorie hat bereits eine gefährliche Eigendynamik entwickelt.
Corona-Aufarbeitung?
Jede/r hat/hatte wohl so seine eigenen Strategien und Überzeugungen während der Corona-Pandemie. Warum sollte es Autor*innen da anders ergehen, als dem Rest der Welt? Während sich Martin Schäuble in „Cleanland“ seine Sorgen über ein zunehmend technokratisch geprägtes Menschenbild von der Seele schrieb, verarbeitet Ursula Poznanski ihre kritische Haltung gegenüber Verschwörungstheorien, Esoterikern und Impfgegnern. Ihr gutes Recht. Was mich irritiert: Poznanski, die eigentlich nicht den Hang zum Pädagogisieren hat und das während ihrer Lesungen auch ausdrücklich betont, schwingt die Moralkeule unerwartet energisch. Eines von zwei Problemen, die ich mit dem Buch hatte. Das andere Problem: Es mangelt teilweise stark an Glaubwürdigkeit.
Als ich „Shelter“ zu lesen begann, war ich neugierig, wie man es schafft, die Thematik in Richtung Thriller hinzubiegen, denn als solcher wird „Shelter“ vom Verlag beworben. Tatsächlich klappt das reibungslos. Es finden sich umgehend ein paar Leichtgläubige zusammen, die die Theorie von den Außerirdischen verbreiten, sich dann aber so sehr hineinsteigern, dass sie sich auf die Jagd nach den außerirdischen Besatzern machen. Schließlich schaltet sich auch noch ein gewisser Octavius über Social Media ein, der die „Jäger“ anfeuert. Und so wird es bald richtig brenzlig.
Social Media – Fluch und Segen
Und natürlich gibt es auch wieder diese poznanskitypischen kleinen Rätseleien, an denen man sich als Leser*in abarbeiten kann. Das alles liest sich ebenso kurzweilig wie fesselnd. Zumal die Hauptfigur (wie eigentlich immer bei Poznanski) für eine enge Leser*innen-Bindung sorgt. Der wiederkehrende Blick in die sozialen Medien (Facebook und Instagram) lockert die Handlung zusätzlich auf. Am Stil gibt es nichts auszusetzen.
Ab der Hälfte beginnen sich kleine Längen einzuschleichen, die man verschmerzen kann. Dann gibt es plötzlich einen thematischen Schenker zur Afghanistan-Krise, die gezwungen wirkt. Weitere Kritikpunkte sammeln sich: Die Radikalität der Verschwörungstheoretiker erscheint in Anbetracht der umrissenen Zeitspanne unglaubwürdig. Aber auch das hätte ich dem Buch verziehen. Was ich wirklich schwach fand, ist die Überraschung gegen Ende, als sich das Rätsel um Octavius aufklärt. Das ist so weit hergeholt, dass ich raus war. Komplett. Auch, weil der Ton stellenweise aufdringlich und belehrend wird. Ich trauerte innerlich um eine extrem gegenwartsnahe, hochspannende Story. Um einen richtig guten Jugendthriller, der überladen und moralsauer ausklingt.
Versöhnliche Worte zum Schluss: Das nächste Buch von Ursula Poznanski werde ich trotzdem wieder lesen. Ich schüttele manchmal den Kopf, bedauere zutiefst bestimmte übertriebene Wendungen in ihren Romanen, halte ihren mitreißenden Schreibstil und ihren Ideenreichtum aber für einigermaßen einzigartig auf dem deutschsprachigen Jugendthrillermarkt . Insofern liegt es mir fern, irgendjemanden von „Shelter“ abzuraten. Dafür hat man mit der Geschichte (über lange Zeit) einfach zu viel Spaß.
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Shelter von Ursula Poznanski
Verlag: Loewe
Erscheinungsdatum: 13. Oktober 2021
Hardcover: 432 Seiten
ISBN: 978-3743200517
Empfohlenes Lesealter: ab 14 Jahren
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