„Mord in der Mangle Street“ von M.R.C. Kasasian, Krimi
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Schön, wenn Bücher halten, was sie versprechen. „Mord in der Mangle Street“ von M.R.C. Kasasian lässt mit seinem nostalgischen Cover auf
eine viktorianische Detektivgeschichte im Stile Arthur Conan Doyles schließen.
Und in der Tat: Der Titel ist Programm. Die Geschichte ist allerdings
ungewöhnlich, in Erzählstruktur, Besetzung und Verlauf.

London 1882. March Middleton, Raucherin,
Gelegenheitstrinkerin, alleinstehend und schlagfertig, befindet sich – nach dem
Tod ihres Vaters – auf dem Weg zu ihrem Patenonkel Sidney Grice, einem
bekannten Privatdetektiv, der March gleich bei der ersten Begegnung mit
Unverschämtheiten und Überheblichkeit brüskiert. Da March keine andere Bleibe
hat, bezieht sie ein Zimmer in Grices‘ Haus und befindet sich kurz darauf in
den Ermittlungen zu einem mysteriösen Kriminalfall wieder. Eine Frau ist brutal
ermordet worden. Der einzige Verdächtige ist ihr Ehemann. Doch dessen
Schwiegermutter und Mutter des Opfers, Grace Dillinger, glaubt an seine
Unschuld. Sie bittet Grice um Hilfe, der sich umgehend auf die Suche nach der
Wahrheit macht, March widerwillig im Schlepptau.

Dass man es nicht mit gewohnten Erzählmustern zu tun
bekommt, ist nach wenigen Seiten klar. M.R.C. Kasasian gibt fast keine Orts-
und Charakterbeschreibungen an die Hand und nur ein Minimum an Atmosphäre.
Stattdessen lässt er seine Figuren erzählen, besser gesagt drauf los poltern.
Fast ausschließlich über Dialoge darf man sich das Wesen der Protagonisten
selbst erschließen, womit man erst einmal beschäftigt ist, da diese mit Ecken,
Kanten und Marotten aufwarten und sich fortwährend Wortgefechte liefern.
Konzentration ist nützlich. Die minimalistische, pointierte Erzählweise
erfordert eine ruhige Leseumgebung. Zwischendurch, in Bus und Bahn zu lesen,
war keine gute Idee. Zu hektisch, zu unruhig und im Ergebnis musste ich viele
Passagen fünf, sechs oder sieben Mal Revue passieren lassen, bis alles den Weg
von den Augen in den Kopf gefunden hatte.

Dabei war alles furchtbar fesselnd. Viel spannende
Recherchearbeit, kniffliges Indiziensammeln sowie messerscharfe
Kombinationsgabe. Gut nachvollziehbar und mit viel Wortwitz. Der Ekelfaktor
liegt im Mittelfeld. Die eine oder andere brutal zugerichtete Leiche wird etwas
genauer inspiziert, ohne jedoch das Maß über zu strapazieren. Bewundernswert
lässig schafft der Autor allein über die Anlage seiner Charaktere ein Gefühl
für das historische London, wobei er sich vor allem in die armen, weniger
ansehnlichen Teile der Stadt begibt.


Dazwischen ein Ermittler, von dem man nicht recht weiß, ob
er der Muppet Show oder einer vergessenen Geschichte von Charles Dickens
entsprungen ist. Grice; eine Fusion aus Holmes, Scrooge, Waldorf und Statler,
Veganer aus Überzeugung und Menschenverachter aus Prinzip, Empathie nahe null.
Ein Bein zu kurz, ein Auge zu wenig und das Ersatzauge ploppt ständig aus der
Höhle. Mit March Middleton tritt eine gefühlvolle, junge Frau in sein Leben. Damit
kann er nichts anfangen, ist aber bald beeindruckt von der Schlagfertigkeit und
Hartnäckigkeit seines Mündels. Ein Team sind die beiden noch nicht, könnten es
aber werden.

March
Middleton bildet einen interessanten Kontrast zu dem ewig zeternden Grice,
bleibt aber größtenteils rätselhaft. Vor ihrer Ankunft in London scheint sie gemeinsam
mit ihrem Vater, einem Militärarzt, Kriegsgebiete bereits zu haben. In melancholischen,
tagebuchartigen Einschüben berichtet sie von der medizinischen Versorgung
verletzter Soldaten, von denen ein ganz bestimmter wohl eine wichtige Rolle in
ihrem Leben gespielt hat. Die kleinen Informationsbrotkrumen zur Vergangenheit
der Protagonisten streut der Autor sehr geschickt und weckt – jedenfalls bei
mir – erfolgreich die Neugierde auf weitere Teile.

Langeweile gab es nie, nur leider kann die Auflösung
aufgrund des winzigen Verdächtigenkreises nicht ganz überraschen. M.R.C.
Kasasian gleicht dieses Manko zur Hälfte mit einer interessanten List aus, die
ich so noch nie in einer Detektivgeschichte vorgefunden habe. Das ist mal
innovativ! Doch auch irritierend, zumal nicht nur die Reputation der Ermittler,
sondern auch gleich der Spannungsgehalt des ganzen Buches auf dem Spiel steht.
M.R.C. Kasasian gelingt es aber, das Niveau zu halten, indem er die Leser in
der Ungewissheit zappeln lässt, ob die Gerechtigkeit am Ende siegen wird. In
dieser Hinsicht ist das Ende ausgefallen.

Gestört hat mich wenig. Das wanderlustige Glasauge und die
ständigen Kabbeleien waren mir irgendwann zu viel. Ansonsten gibt es nichts zu
meckern, außer eines: Ich hätte gerne direkt den nächsten Teil zur Hand
genommen. Leider gibt es ihn nicht, jedenfalls nicht in deutscher Sprache. Eine
Anfrage beim Verlag Hoffmann und Campe ergab die knappe Auskunft, es lägen keine
Informationen vor, ob weitere der bislang insgesamt fünf Bände der Serie um
Grice und Middleton übersetzt werden, was etwas frustrierend ist, denn ich
möchte beide gerne näher kennenlernen!


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„Mord in der Mangle Street“ von M.R.C. Kasasian
Originaltitel: The Mangle Street Murders
Übersetzung: Alexander Weber, Johannes Sabinski
Gebundene Ausgabe: 400 Seiten 
Verlag: Atlantik
Erscheinungstermin: 19. August 2016 
ISBN: 978-3455600513

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