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„Bus 57“ ist tatsächlich (leider) eine wahre Geschichte: Im November 2013 kam es in Oakland zu einem bestürzenden Ereignis. Der 16jährige afroamerikanische Teenager Richard setzte den Rock des/der gleichaltrigen genderqueeren Jugendlichen Sasha in Brand, während diese/dieser in einem Bus schlief. Sasha erlitt schwere Verbrennungen an den Beinen. Richard wurde kurz darauf gefasst und musste sich vor Gericht für seine Tat verantworten.

In einem längeren Essay arbeitete die Journalistin Dashka Slater den Fall für die New York Times auf und verfasste auf der Basis ihrer Recherchen schließlich „Bus 57“. Eine Dokumentation, die sich noch einmal genauer mit Opfer und Täter beschäftigt, mit dem Tag der Tat, Sashas Zeit im Krankenhaus sowie der anschließenden Gerichtsverhandlung, während der nicht nur geklärt werden musste, ob ein Hassverbrechen vorliegt, sondern auch, ob Richard nach Erwachsenen-Strafrecht oder Jugend-Strafrecht verurteilt werden soll. Des weiteren werden Begriffe der Geschlechtsidentität diskutiert und ein Blick auf die US-Justiz geworfen.

Bus 57 – ein ort wie jeder andere

Leicht ist der Fall nicht zu beurteilen: So, wie es sich darstellt, wie es Richard selbst und viele Beteiligten sehen, hat Richard Sashas Rock nicht vorsätzlich aus Hass, sondern im Affekt, aus einer Gruppendynamik heraus angezündet, eine unüberlegte, idiotische Tat. Dessen ungeachtet: Hätte Sasha (die/der nach Geschlechtsmerkmal ein Junge ist) keinen Rock, sondern eine Hose getragen, wäre es vielleicht nicht dazu gekommen.

Wer ist Sasha? Wer ist Richard?

Dashka Slater nähert sich diesem Aspekt fragmenthaft, in kurzen Kapiteln. Zeugen kommen zu Wort, Betreuer, Eltern, Freunde und Verwandte. Rein vom Handwerk aus betrachtet, hättet man die Geschichte stimmiger aufrollen können. Die Auswahl der Zitate erscheint mitunter wahllos. Oft ist nicht klar, ob Gesagtes auf persönliche Gespräche zwischen der Autorin und den Beteiligten zurückzuführen ist, oder Interviews ausgewertet wurden. Dadurch entstand bei mir ein distanziertes, diffuses Bild, die Personen konnte ich nur schwer zu greifen. Ich habe mir im Anschluss ein Interview mit Sasha, der/die das Asperger-Syndrom hat, im Netz angesehen und war überrascht, wieviel Eindruck er/sie hinterlässt. Diese Wirkung ist dem Buch innerhalb der luftig gesetzen 400 Seiten nicht gelungen.

Zwischen nüchtern und pathetisch

Der Schreibstil ist einfach und verständlich. Für meine Begriffe vielfach aber zu pathetisch. Sätze wie: „Manchmal, wenn Cherie an ihre alte Clique denkt, füllen sich ihre Augen mit Tränen.“ (S. 109), waren mir zu gefühlig, zu amerikanisch. In diesem Zusammenhang erschien mir Richards Charakterzeichnung unterm Strich zu einseitig. Obwohl Dashka Slater nicht direkt für ihn Partei ergreift, wird durch die verwendeten Zitate ein immer gut gelaunter, hilfsbereiter, herumblödelnder, oft nerviger aber netter Kerl von nebenan skizziert. Negative Eigenschaften, die er sicher auch hat, bleiben unerwähnt. Vielleicht muss man berücksichtigen, dass während des Verfahrens die speziellen Schwächen der US-Justiz auf dem Prüfstand standen und fast alle Beteiligten, selbst Sashas Familie, verhindern wollten, dass Richard seine Strafe in einer Haftanstalt für Erwachsene absitzen muss. So oder so: Die Grautöne zwischen einer schlicht unüberlegten und einer mutwilligen Tat wurden in meinen Augen nicht deutlich.

Ganz im Gegensatz zu den Folgen, die diese fahrlässige Handlung nach sich zog. Richards Gewissensbisse und Sashas Leiden werden eindringlich herausgearbeitet. Die im Wortlaut abgedruckte Rede von Sashas Eltern vor Gericht, hat mich stark berührt und beeindruckt.

Sier Siem Sien

Eine Besonderheit der Geschichte ist die Verwendung geschlechtsneutraler Begiffe. Da sich Sasha (ehemals Luke) als agender wahrnimmt, sich also keinem Geschlecht eindeutig zuordnet, bevorzugt Sasha die Verwendung des Pronomens sier – im Englischen they – samt aller Unterformen.

„Nach und nach bat Sasha Debbie, Karl und alle, die siem am nächsten waren, sien Sasha statt Luke zu nennen.“ (S. 51)

Je nachdem, welchen Bezug man selbst zu der Thematik hat (ich kenne niemanden, der sich als agender bezeichnet!) liest sich das sehr eigentümlich. Aber warum nicht? Für mich war es nachvollziehbar, dass Wörter, da wo sie fehlen, neu geschaffen werden sollten. Um den Text nicht zu kompliziert zu machen, habe ich allerdings darauf verzichtet.

Alles in allem ist „Bus 57“ eine aufklärende, berührende, erschreckende, teilweise aber zu unverbindliche Geschichte, die sich den Persönlichkeiten von Sasha und Richard nur in Ansätzen nähert. Mir gab sie viele Denkanstöße. Dashka Slater sensibiliert dafür, dass Menschen, die auffallen, anders oder sonderbar erscheinen, allzu leicht und oft schikaniert werden. Aber auch dafür, wie schwierig es für junge Schwarze ist, im US-amerikanischen Rechtssystem fair behandelt zu werden.

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Bus 57: Eine wahre Geschichte von Dashka Slater
Original: Bus 57
Übersetzung: Ann Lecker
Hardcover: 400 Seiten
Verlag: Loewe
Erscheinungstag: 11. März 2019
ISBN: 978-3743203631
Altersempfehlung: 14 – 17 Jahre

One Reply to “[Rezension] „Bus 57: Eine wahre Geschichte“ von Dashka Slater”

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