Copyright: Diogenes |
„…
Wir sind nicht Kinder Gottes und auch keine Märchengestalten, die sich ewig
lieben. Wir leben in der Nacht und tanzen wie die Wilden, damit uns das Leben
nicht einholt. Das ist unser Credo.“
In der Nacht leben, das ist es, was Joe Coughlin will, schon
immer. Ein anderes Leben führen als die normalen Bürger im Amerika der
ausgehenden 1920er Jahre. Gemeinhin bezeichnet man Menschen wie Joe als
Gangster oder Kriminelle – dabei ist er der jüngste Sohn des stellvertretenden
Polizeichefs von Boston. Er selbst jedoch sieht sich als Gesetzlosen. Ein feiner
Unterschied, der darin liegt, dass Gangster ausschließlich nehmen und völlig
skrupellos handeln. Joe aber gibt und tötet nur, wenn es absolut unumgänglich
ist.
Joe Coughlin ist mir ans Herz gewachsen – obwohl
er sein Geld mit kriminnellen Machenschaften verdient. Eingeschlichen hat er sich mit seiner Chuzpe und
Geradlinigkeit, seinem Selbstvertrauen und einer unglaublichen Cleverness, die
ihresgleichen sucht. Regelrecht
verguckt habe ich mich in einen Mann, der in den anfänglichen
1930er Jahre zu einem der erfolgreichsten Schmuggler und Syndikatsbosse im
Süden Amerikas aufsteigt. Das Land liegt nach dem Zusammenbruch der Börse und vieler
Banken buchstäblich darnieder. Die Menschen verlieren ihre Arbeit und suchen
Trost im Alkohol, der verboten ist. Die perfekte Zeit für Joe, um durch
geschickte Schachzüge ein wahres Imperium aufzubauen. Er wird respektiert,
sogar von seinem natürlichen
Feind – dem Polizeichef von Tampa.
„…
Ich weiß noch, wie er Sie mir einmal auf der Straße gezeigt und gesagt hat:
‚Das ist der Bürgermeister von Ybor. Ohne ihn ginge hier alles drunter und
drüber.‘ … „
Ein weiterer Unterschied zu anderen Gangsterbossen ist seine
Fähigkeit, Menschen an sich zu binden. Loylität ist keine Frage, sie ist eine Tatsache. Trotz
der Härte und Brutalität, die er im Umgang mit konkurrierenden Gangs an den Tag
legen muss, hat er eine zutiefst
menschliche Seite, die ihn schon immer dazu gebracht hat, sein
Geld nicht für sich alleine zu behalten, sondern denen zu helfen, die nichts
mehr haben. So findet er nicht nur Geschäftspartner, sondern Freunde, die auch
für ihn in Tod gehen.
Dennis
Lehane ist mit In der Nacht nicht nur ein verdammt spannender Krimi gelungen, sondern
ein Roman, der alles hat, was ein wirklich guter Roman braucht. Ausgefeilte
Figuren, einen starken Plot und genug Kreativität, um den Spannungsbogen immer
noch ein Stückchen mehr dehnen zu können. Darüber hinaus entwickelt
Lehane seine Geschichte mit trickreichen und unerwarteten Wendungen, niemals
platt und doch immer in genau dem richtigen Tempo – und seine Figuren
entwickeln sich mit. Lange Ruhephasen gibt es nicht. Sie werden durch
plötzliche Ereignisse unterbrochen – als Gesetzloser von Rang muss man eben
immer auf der Hut sein, was an der nächsten Straßenecke auf einen wartet. Nur
so überlebt man. Angst
hingegen ist etwas, das man nicht zulassen sollte und doch erkennt Joe sie in
fast jedem seiner Gegner.
“
… Sie fürchteten ununterbrochen, dass ihre Butalität immer maßloser ausufern
würde, dass irgendein anderes Ungehauer ihnen ihre Macht wegnehmen würde. Und
diese Furcht huschte wie Quecksilber durch ihre Augen; wenn man sie nicht
sofort wahrnahm, bekam man keine zweite Chance. In jenem ersten Moment jedoch,
wenn sie noch nicht genau wussten, woran sie waren, konnte man das Tier namens
Angst genau erkennen, auch wenn es sich in derselben Sekunde bereits wieder in
seine Höhle zurückzog. …“
Mitten in Ybor, mitten in den Geschehnissen – so
habe ich mich beim Lesen gefühlt. Die Geschichte, die Personen, die Vorkomnisse
ließen mich nicht mehr los, egal ob ich nun in der S-Bahn oder abends bis tief
in die Nacht auf meinem Sofa sitzend las. Beeindruckt von der Fähigkeit ein
Buch zu schreiben, das Bilder im Kopf entstehen lässt, die einem perfekt
geschnittenen Kinofilm gleich kommen und doch tiefer gehen, als ein Film das jemals könnte. Ich
fühlte mich wohl in Joes Welt, die im wahren Leben, abschreckend wäre – ich war
fast ein Teil der Geschichte, so tief konnte ich in ihr versinken.
In der Nacht ist ein wahrhaftes Œuvre, das selten über Menschen urteilt, sondern
kenntnisreich die gesellschaftlichen Verhältnisse und die daraus entstehenden –
auch rassistischen – Entwicklungen im Amerika der Jahre 1926 bis 1935 aufzeigt.
Schuldzuweisungen bezüglich der Beförderung des Alkohol- oder Drogenmißbrauchs
durch die Syndikate gibt es nicht. So versucht Joes Geschäftspartner und Freund
Esteban Suarez
ihm auch seine moralischen Bedenken zu nehmen:
“
… Wir sind nicht unseres Bruders Hüter, Joseph. Es wäre eine Beledigung für
unsere Mitmenschen, wenn wir ihnen nicht mal zutrauen würden, eingermaßen auf
sich selbst aufpassen zu können. … „
Sprachlich brillant, mit Sätzen die wie in Stein gemeißelt
wirken, zeigt Lehane auch noch feinen Sinn für Witz und absurde Situationen.
Hinreißende und zuweilen unverschämt pfiffige Dialoge runden das Ganze ab.
Die Geschichte selbst ist zwar rein fiktiv, das Personal,
das Lehane auftreten lässt ist es nicht. Gangster wie Lucky Luciano und
sein Anwalt Meyer Lansky waren echte Größen und verleihen diesem Knüller einen
zusätzlichen Hauch von Authentizität.
Doch nun genug der Lobeshymnen, die das Buch wahrlich
verdient. Überzeugt euch einfach selbst, tretet ein in die Welt der
Gesetzlosen, werdet ein Teil von ihr und tanzt eine Weile mit – es macht
irrsinnigen Spaß sage ich euch!
Mehr Informationen zu Buch und Autor findet ihr auf der
Seite des DiogenesVerlages, dem es zu verdanken ist, dass Dennis Lehane nun hoffentlich auch
im deutschsprachigen Raum die Beachtung erfährt, die er verdient.
Ich warte gespannt auf eine eventuelle Fortführung
und werde mich bis dahin irgendwie über Wasser halten müssen.
Gebundene Ausgabe: 583 Seiten
Verlag: Diogenes
Erscheinungsdatum: 27. November 2013
ISBN: 978-3257068726
Hallo!
Eine sehr schöne Rezi. Normalerweise hab ichs gar nicht so mit Krimis, aber ich bin extrem empfänglich schönen Zitaten wie diesen hier gegenüber. Find ich übrigens ne ziemlich gute Idee, dass du die hier eingebracht hast – ich werd das Buch demnach auf jeden Fall auf meine Leseliste setzen, klingt wirklich interessant!
Liebe Grüße von der Zwiebel 🙂
Danke – das freut mich sehr, dass Dich die Rezension dazu bewegt, das Buch zu lesen. Lies es nicht als Krimi, das ist die falsche Überschrift. Lies es als Gangsterepos, à la American Gangster oder so … aber eben zur Zeit der Prohibition.
Noch dazu ist ein Buch, das Potential zum Klassiker hat.
Viel Spaß – ich beneide Dich darum, dass Du es zum ersten Mal lesen wirst …