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Wahrscheinlich habe ich das Buch mit falschen Erwartungen begonnen. Angekündigt als „Roman der Stunde“ in Zeiten von Migration, Klimawandel und Brexit habe ich mir wohl zuviel erhofft. Ich attestiere John Lanchester gerne, das Thema bzw. die Themen der Stunde getroffen zu haben. Von einem großen Wurf würde ich allerdings nicht sprechen.

„Die Mauer“ ist eine Dystopie, die sich nicht weit von der Gegenwart weg bewegt: Wir begleiten den jungen Kavanagh in seiner ersten Zeit auf der Mauer, ein kilometerlanger Verteidigungswall, der Großbritannien umgibt und vor den Massen von Flüchtlingen abriegeln soll, die über den Ozean kommen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Weil ein enormer Aufwand nötig ist, um jeden Winkel der Mauer zu überwachen, müssen alle jungen Briten (egal, ob männlich oder weiblich) zwei Jahre Wachdienst ableisten. So auch Kavanagh. Die Spielregeln sind dabei klar: Schafft es ein „Anderer“ über die Mauer, muss einer der eigenen Leute gehen. Man wird in einem Boot auf dem Meer ausgesetzt und dem Schicksal überlassen. Die Wachsamkeit der Verteidiger ist daher trotz eisiger Kälte groß, ihre Gemütslage angespannt.

Die Mauer zwischen Leser und Erzähler

Eine großartige Prämisse – eigentlich. Viel daraus gemacht, wurde leider nicht. Es liegt nicht einmal an der Handlung selbst, die in ihren Zügen gut erdacht ist. Es liegt an der Erzählweise. Man kann es als Stilmittel bezeichnen, stoisch, ohne Sinn für Höhepunkte und einprägsame Schlüsselszenen zu beschreiben, in einer kühlen Aneinanderreihung von Eindrücken, von denen das Kauen eines Energieriegels den gleichen Stellenwert besitzt, wie das Töten eines Menschen. Man kann aber auch sagen: Es ist beispielhaft für eine schwache Figurenzeichnung.

Absicht? Oder Unfall?

Selbst wenn das Gefühl von Unberührtheit, die das Buch ausstrahlt, beabsichtigt ist (als Ausdruck der Gefühlskälte, die mit der Abschottung vom Elend in der Welt einhergeht), hätte sich der Ton konsequenterweise ab der Hälfte ändern müssen – wenn sich nämlich die Seiten verkehren und Kavanagh am eigenen Leib zu spüren bekommt, was es bedeutet, auf der Verliererseite zu stehen. Das passiert aber nicht. Die Geschichte fließt monoton dahin. Erzähler Kavanagh beobachtet, erlebt aber nicht. Er ist der Mann ohne Eigenschaften, der dem Leser sachlich die Umstände präsentiert, aber nie zum eigentlichen Teil der Geschichte wird – egal, wie dramatisch sie sich entwickelt. Und sie wird durchaus abenteuerlich.

Die Zukunft wird in Stichworten umrissen, wobei das Paradoxon soweit nachvollziehbar ist: Paare wollen keine Kinder mehr in die Welt setzen. Sie erhalten aber Vergünstigungen, wenn sie es doch tun – zur Erhaltung der eigenen ethnischen Gruppe, obwohl es weltweit viel zuviele Menschen gibt und die Erde heruntergewirtschaftet ist. Die Jungen haben deshalb eine Stinkwut auf ihre Eltern. Sie geben ihnen die Schuld am Status Quo. Und damit uns allen, die wir im Hier und Jetzt leben und die Zukunft in der Hand haben. Leider erleben wir all das durch die Augen einer Figur, die aus Raum und Zeit gefallen zu sein scheint, die so phlegmatisch erzählt, dass der Leser nichts aus diesem Buch mitnimmt. Außer treffenden Beschreibungen verschiedener Kältezustände auf der Mauer. Die sind wirklich gelungen!

John Lanchesters Zukunftsvision ist kein Hirngespinst, sondern setzt aktuelle Probleme, Sorgen und Tendenzen auf die nächst höhere Stufe. Es hätte eine fantastische, aufwühlende Geschichte werden können. Doch das A und O sind nun einmal die Figuren, die bei Lanchester wie unbeteiligte Beobachter durch die Handlung hinken, was man mit der Mauersymbolik rechtfertigen könnte, würde man auch nur an einer einzigen Stelle diese Absicht spüren. Mir gelang das nicht.

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Die Mauer von John Lanchester
Original: The Wall
Übersetzung: Dorothee Merkel
Hardcover: 348 Seiten
Verlag: Klett-Cotta
Erscheinungstermin: 31. Januar 2019
ISBN: 978-3608963915

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