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Pornographische Literatur garantiert Millionenauflagen. Vor allem, wenn
sie aus weiblicher Hand stammt. Mit Fifty Shades of Grey sorgte die
britische Autorin E.L. James dafür, dass SM-Praktiken unter die Leute
kamen; die Schoßgebete der deutschen Charlotte Roche seufzten durch das
Feuilleton sämtlicher großen Zeitungen. Ob diese Bücher wirklich tabulos
sind, ob sie unbedingt Wissenswertes über weibliche Sexualität
enthalten, ob sie Unterhaltungswert besitzen, Experimentierfreude wecken
oder gar den Zeitgeist widerspiegeln – das ist eine Frage, deren
Beantwortung sehr von individuellen Kenntnissen und Einstellungen
abhängt. Einig waren sich selbst gutwillige Kritiker zumeist darin, dass
die zum Voyeurismus einladenden Obszönitäten einfach bloß schlecht und
schlampig geschrieben waren.
Dieses nun wird man Hanna Leybrands
Tigerküsse nicht nachsagen können. Die Heidelbergerin wurde als
Lyrikerin bekannt und mit großem Lob bedacht. Hervor gehoben wurden vor
allem Leybrands beeindruckende Variabilität lyrischer Formen, die
stilsichere Souveränität der Sprache, die einfühlsame Prägnanz ihrer
Bilder und ihre leichthändige Virtuosität im Umgang mit literarischen
Vorbildern. Bereits 2011 stellte Leybrand in Das Nest ihre Begabung für
facettenreiche Kurzprosa unter Beweis.
Drei Jahre später
präsentiert sie sich nun erneut als Erzählerin von Rang. Wieder stehen
im Mittelpunkt Geschichten über die Liebe, jetzt aber mit deutlicher
Akzentuierung der erotischen Komponenten. Bei aller himmelsstürmenden
Liebesbejahung zeigt Leybrand als Schriftstellerin, dass sie nie die
Bodenhaftung verliert. Das Glück erotischer Begegnungen ist tatsächlich
Glück, es ist nie pathetisch, nie trivial. Schmerz ist tatsächlich
Schmerz, er wirkt nie wehleidig, nie schal. Ernst und lakonisch, aber
zum Teil mit einem gehörigen Schuss Selbstironie und Komik bedenkt Hanna
Leybrand sehnsuchtsvolle Höhenflüge – und banale Niederlagen. Dieser
ganz eigene Ton prägt die beiden kleinen erotischen Romane, die nun
unter dem Gesamttitel Tigerküsse erschienen sind.
Der erste,
titelgebende Roman kontrastiert kunstvoll zwei Erzählebenen. Die
Rahmenhandlung bildet ein Ausflug von vier Freundinnen der
Fünfzig-plus-Generation – frei nach Sex-and-the-City. Eine der Damen
schriftstellert und präsentiert bei Kerzenlicht die Erzählung über eine
Sammlerin chinesischer Kunstwerke, zu deren Favoriten frühe Meisterwerke
erotischer Literatur gehören. Die darin ebenso virtuos wie beglückend
geschilderten Liebesakte ermutigen die junge Frau, einen taoistischen
Feldversuch zu wagen… Aber dabei bleibt es dann nicht. Aus den Höhen
chinesischer Erotikkunst stürzt die Leserin im zweiten Roman in die
Untiefen der Liebe in einem Sanatorium. Martha, die mit allen Spielarten
der Liebe vertraute, attraktive und kluge Hauptfigur, beginnt dort ein
erosdurchleuchtetes Techtelmechtel mit einem Tunichtgut…
Hanna
Leybrand haucht mit Tigerküsse dem verloren geglaubten Genre des
erotischen Romans neues modernes Leben ein. Alltägliches und Exotisches,
Frivoles und Geschmackvolles, Bitteres und Heiteres, Amüsement und
Todernst der Liebe werden in einem ebenso präzisem wie schwerelosen
Plauderton weitergegeben, wissend, dass Liebeserfahrungen nicht teilbar
sind, aber doch mitgeteilt werden wollen. Zuweilen ist die Leybrand
rotzfrech, aber nie obszön. In eroticiis ist sie häufig schamlos, aber
nie indiskret. Das gibt dem erotischen Roman wieder, was er in seinen
Glanzzeiten hatte: Kunstfertigkeit. Sie ist bei aller
erfahrungsgesättigten Voraussetzung, Romane wie diese schreiben zu
können, letztlich der Grund, sie lesen zu müssen. Weit entfernt von der
Darstellung brachial-pornographischer Körperlichkeit setzen Hanna
Leybrands Tigerküsse die Phantasie in der Erotik wieder in ihr Recht.
Tigerküsse
wurden – wie Hanna Leybrands andere Werke – im Manutius Verlag
Heidelberg verlegt. Das kleine feine Buch ist liebevoll gestaltet. Das
Cover trägt ein Titelblattentwurf des englischen Graphikers und Dichters
Aubrey Beardsley für die Jugendstil-Zeitschrift The Yellow Book aus dem
Jahr 1894. Beardsley ließ sich als Illustrator von der Kunst des
japanischen Holzschnitts beeinflussen. Nichts könnte besser als Entree
für Hanna Leybrands erotische Romane gewählt sein, als diese in
Schwarz-Weiß-Gegensätzen dargestellte Begegnung eines Paares. Zudem ist
der titelgebende Roman mit literarischen Zitaten angereichert, die in
filigranen Rahmen typographisch abgesetzt sind: sie verweisen auf eine
interkulturelle Lesart von Liebeserfahrungen, die in einen
spannungsreichen Bezug zu den erzählten Geschichten gesetzt werden,
diese illustrieren oder kommentieren, parodieren oder kontrastieren. Ein
erotisch-bibliophiles Kleinod!
„Tigerküsse. Zwei kleine Romane“ von Hanna Leybrand
Hardcover: 250 Seiten
Erscheinungsdatum: 31. August 2014
Verlag: Manutius
ISBN: 978-3-944512-03-7