Alvie hat das Asperger-Syndrom. Das allgemein als leichte Form von Autismus bezeichnet wird. Ihren Alltag bewältigt die junge Frau aber sehr gut. Da sie keine Eltern mehr hat, lebt sie mit ihren 17 Jahren allein und bestreitet ihren Lebensunterhalt mit einem Job als Tierpflegerin. Lediglich soziale Kontakte hat sie kaum. Im Grunde beschränken diese sich auf die regelmäßigen Besuche eines Sozialarbeiters. Um per Gerichtsbeschluss als mündig anerkannt werden, befolgt Alvie den Rat des Pädagogen und wagt sich aus ihrem Schneckenhaus. Allerdings erstmal nur virtuell. Zaghaft schreibt sie den 19jährigen Stanley an, dessen Handy sie aus einem Teich gefischt hat.
Missverständnisse und andere Hürden
Liebe, Verwicklungen, zarte sexuelle Gefühle, Familiendrama, Humor und viel Optimismus stecken in „Jeder von uns ist ein Rätsel“. Es ist eine klassische Comig-of-Age-Geschichte, eine die man nachdenklich, bewegt, aber glücklich zuklappt. Noch dazu mit dem gewissen Etwas, die aus einer guten Story einen Pageturner macht.
Autorin A.J. Steiger macht es dem Leser leicht, ihre Protagonisten zu mögen. Es sind Sympathieträger, durch und durch. Stanley ist ruhig, sensibel und mitfühlend. Und auch Alvie hat das Herz am rechten Fleck. Durch ihre Eigenheiten gerät sie leider oft in Schwierigkeiten. Die Annäherung zwischen Alvie und Stanley ist daher nicht einfach. Zumal beide aus Gründen, die der Leser erst nach und nach erfährt, viel Scham und Zweifel in sich tragen.
Ich habe ihre Geschichte wirklich gerne gelesen. Meine einzige Kritik betrifft die Hintergründe des Todes von Alvies Mutter. Schicksalsschläge gehören zum Inventar vieler Jugendbücher. Aber es ist ein schmaler Grad zwischen „rührend“ und „rührselig“ – ohne groß spoilern zu wollen, hier wurde mir am Ende zu sehr auf die Tränendrüse gedrückt. Manchmal ist weniger mehr. Und die Geschichte von Alvie und Stanley hätte diese Art der Dramatisierung einfach überhaupt nicht nötig gehabt.
Asperger – ist es so wirklich?
Wird das Asperger-Syndrom realistisch dargestellt? Das habe ich mich natürlich gefragt. Als Nichtbetroffene kann ich es schwer beurteilen. Ich könnte mir vorstellen, dass Alvie in gewisser Hinsicht als stereotyp wahrgenommen werden könnte. Sie hat eine Menge „Marotten“ – faucht manchmal wie ein Kaninchen. Schaukelt bei Überforderung vor- und zurück. Zieht zwanghaft an ihren Zöpfen. Rastet bisweilen aus. Möchte nicht berührt werden. Erträgt bestimmte Stoffe auf der Haut nicht. Hat ein Faible für wissenschaftliche Fakten. Ist schnell reizüberflutet. Das sind viele Symptome auf einmal. Vielleicht zuviele? Asperger äußert sich – wie die meisten Phänomene – nicht einheitlich. Für mich als Außenstehende war es vor allem wichtig, Alvies Probleme nachvollziehen zu können. Und das konnte ich. Ich konnte ihre Frustration spüren, wenn sie bestimmten Situationen ausgeliefert war. Ihre Unsicherheit. Ihre Hilflosigkeit.
Gleichzeitig gelingt der Autorin etwas Entscheidendes: Nämlich Alvie als völlig normales Mädchen darzustellen. A.J. Steiger lässt keinen Zweifel daran, wem ihre Sympathien gehören: Alvie und Stanley, den scheinbar Unnormalen. Die sich als sehr viel normaler erweisen, als die sogenannten „Gesunden“, die oft borniert, abweisend und gehässig handeln. Auch das ist vielleicht stereotyp. Aber es steckt auch Wahrheit darin. Und natürlich macht es – wie so oft – verdammt viel Spaß, sich auf die Seite der vorgeblichen Loser zu schlagen.
Fazit: Süß, zart, lebensbejahend und optimistisch. Eine romantische Geschichte über zwei Außenseiter, die mit-einander zu sich selbst finden. Stellenweise wäre weniger mehr gewesen. Trotzdem: Ein Pageturner!
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Jeder von uns ist ein Rätsel von A.J. Steiger
Originaltitel: When My Heart Joins the Thousand
Übersetzung: Annette von der Weppen
Hardcover: 400 Seiten
Verlag: Carlsen
Erscheinungsdatum: 1. November 2018
ISBN: 978-3551583796
Altersempfehlung: Ab 14 Jahren