„Hey Kiddo. Wie ich meine Mutter verlor, meinen Vater fand und mit Drogensucht in meiner Familie klarkommen musste“. Huuuuu… ein langer Titel. Vielleicht ein bisschen zu lang und zu konkret, um neugierig auf die Geschichte zu machen? Das war jedenfalls mein erster Gedanke. Allerdings muss ich zugeben: Er trifft den Nagel auf den Kopf. In dieser Graphic Novel erzählt der Zeichner himself, Jarrett J. Krosoczka, von Akohol- und Drogenmissbrauch in seiner Familie und davon, was das als Kind für ihn bedeutete.
Anyway: Don’t judge a book by it’s cover. Trotz des viel vorwegnehmenden Untertitels hält man hier eine komplexe und durchaus überraschende Geschichte in den Händen.
Viel Grau zwischen schwarz und weiß
Man könnte ja auf den Gedanken kommen, dass Jarretts Kindheit einfach nur traurig und deprimierend war. Genau das ist aber nicht der Fall. Denn zum Glück lässt sich das echte Leben nicht so leicht den Stempel „gut“ oder „schlecht“ aufdrücken, sondern ist soviel komplizierter.
Großwerden in der atypischen Familie
Weil Jarretts Mutter heroinsüchtig ist und irgendwo zwischen Reha-Klinik, Gefängnis und Straße pendelt, wächst Jarrett bei seinen Großeltern und im Kreis seiner Tanten und Onkels auf. Und das ist immerhin nicht ganz so übel.
Zwar ist bei Oma und Opa nicht alles ideal – die Oma trinkt und ist oft hart und zänkisch – aber zu Jarrett ist sie meistens liebevoll und zugewandt. Auch die vielen Verwandten, vor allem aber der Großvater sind in besonderer Weise für Jarrett da. Trotzdem versteht er zunächst nicht, warum bei ihm in der Familie alles so anders ist, warum seine Mutter nie da ist und seine Großeltern so wenig über sie sprechen. Das alles findet er erst mit den Jahren heraus.
Es ist eine leise, melancholische Geschichte, in der man sich erstaunlicherweise oft wohl fühlt, weil Jarrett von seinen Großeltern soviel Bestärkung, Verlässlichkeit und Unterstützung erfährt, auch bei seinem Wunsch, Comiczeichner zu werden, womit er augenscheinlich ziemlich erfolgreich war.
Trotzdem verschweigt der Autor nicht seine schlimmen Erlebnisse und führt uns dabei gekonnt die kindliche Perspektive vor Augen, aus der heraus vieles extrem angsteinflößend und verunsichernd erlebt wird.
Gestaltung und Inhalt im Einklang
Die Gestaltung trägt dem Rechnung. Die Geschichte wird in einem dunklen, monochromen Farbschema erzählt (Abstufungen von Grau und nur ein wenig dezentes Orange). Krosorczkas Stil ist gleichzeitig schlicht und prägnant. Hintergrund und Umgebung bleiben skizzenhaft. Die Figuren stehen klar im Vordergrund, sind aber denkbar einfach gehalten. In ihrer Mimik zeigt sich jedoch an wichtigen Stellen eine große Bandbreite an Gefühlen. Angst, Wut, Überforderung, Liebe, Stärke, Entschlossenheit – all das, was die Erinnerungen des Autors prägt.
Auch das Layout ist gelungen: Text und Panels stehen in einem guten Verhältnis, alles ist nachvollziehbar angeordnet und nicht überladen.
Anfangs noch etwas wackelig
Als kleinen Kritikpunkt kann ich nur die inhaltliche Gestaltung des Anfangs benennen. Hier gibt es einen aus meiner Sicht zu ausholenden und verwirrenden Schwenk in die Zeit des Kennenlernens von Jarretts Großeltern. Man hätte diese Informationen später im Buch, vielleicht auch kürzer, unterbringen können.
Fazit: Ehrlich und warmherzig erzählt, einnehmend gezeichnet. In „Hey Kiddo“ steckt eine starke, komplexe Geschichte, die zwar hauptsächlich in Schwarz und Weiß entworfen ist, aber die Figuren in vielen Nuancen zwischen Gut und Böse, Zu- und Abneigung, Trostlosigkeit und Hoffnung, Schwäche und Stärke zu Papier bringt. Als konkrete Hilfestellung für Jugendliche mit ähnlichen Problemen ist das Buch vielleicht nur bedingt geeignet. Dazu ist es zu individuell und persönlich. Wohl aber könnte es trostreich sein, sich in dem Familienschicksal eines anderen – wenn auch nur partiell – wiederfinden zu können.
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„Hey, Kiddo: Wie ich meine Mutter verlor, meinen Vater fand und mit Drogensucht in meiner Familie klarkommen musste“ von Jarrett J. Krosoczka
Übersetzung: Ulrich Thiele
Verlag: Loewe
Veröffentlicht: 15. Juni 2022
Hardcover: 320 Seiten
ISBN: 978-3743210646
Empfohlenes Lesealter: 12+