Keine seiner literarischen Figuren habe ihn je zu einer Fortsetzung gereizt, sagte Stephen King einmal. Mit einer Ausnahme: der kleine Danny Torrance aus „Shining“. Auf die Idee, dessen Geschichte weiterzuerzählen, brachte King ein Fan, der von ihm wissen wollte, was wohl aus Danny nach dessen traumatischen Erlebnissen im Overlook-Hotel geworden sei. Die Frage ließ den Autor nicht mehr los. Die Geburtsstunde von „Doctor Sleep“.
Nachdem ich gerade erst sehr angetan „Shining“ gelesen habe, interessierte mich der Nachfolger natürlich auch. Vom Ergebnis bin ich überrascht: In vielerlei Hinsicht ist „Doctor Sleep“ das passgenaue Gegenstück zum Original-Roman. Während Jack Torrance in „Shining“ von seinen inneren Dämonen zerfressen, in einen alkoholumnebelten Gewaltrausch abgleitet, vollzieht sich die Entwicklung in „Doctor Sleep“ umgekehrt: Jacks inzwischen erwachsener Sohn Dan, der natürlich (wie könnte es anders sein?) ebenfalls zum Alkoholiker wird, überwindet seine Sucht und schafft über die Konfrontation mit seinen Ängsten den Sprung zurück in die Gemeinschaft.
Gut. Klingt nun nicht gerade nach Horrorstory. Eher nach Selbstfindungstrip. Ist es tatsächlich auch. Aber Stephen King wäre nicht Stephen King, wenn das schon alles gewesen wäre.
Der wahre Knoten und das Shining
Derweil der Leser sich zunächst vorwiegend mit Dans Weg in und aus dem Alkoholsumpf befasst, bahnt sich fast nebenbei ein zweiter Handlungsstrang an: Ein bunt gemischter Haufen hochgefährlicher Mörder mit so illustren Namen wie Rose the Hat, Barry the Chink, Grampa Flick und Crow Daddy, fährt – getarnt als Camper – mit Wohnmobilen kreuz und quer durchs Land. Auf der Suche nach Kindern mit dem Shining, dem zweiten Gesicht, das sie „Steam“ nennen. Dieser Steam ist bei Kindern in besonderem Maße vorhanden und die Hauptnahrungsquelle der Gruppe. Shining-Vampire sozusagen. Leider ist die Steam-Gewinnung keine blitzsaubere Angelegenheit: Um an die Essenz zu gelangen, müssen die Kinder nämlich Todesqualen erleiden und bis auf’s Äußerste gefoltert werden. King hält sich mit Details zurück, wenngleich es innerhalb des Buches eine Szene gibt, die stark unter die Haut geht.
Doctor Sleep und die AA
Danny ist da fein raus. Er hat zwar das Shining, ist aber erwachsen. Der Wahre Knoten, wie sich die Gruppe hochtrabend nennt, stellt keine Gefahr für ihn dar. Außerdem ist er ja gerade damit beschäftigt, so richtig im Dreck zu kriechen, dann noch etliche Jahre rastlos umherzuwandern, schließlich in einer Kleinstadt in Maine (!) anzukommen, sesshaft zu werden, Freunde zu finden, sich den Anonymen Alkoholikern anzuschließen und in einem Hospiz seine paranormalen Fähigkeiten dazu zu nutzen, Sterbenden den Übergang ins Jenseits zu erleichtern. Daher auch sein Spitzname, Doctor Sleep.
Man kann King nicht vorwerfen, seinen Geschichten nicht genügend Vorlauf zu geben. Selbst die zweite wichtige Hauptfigur, Abra Stone, führt er beginnend mit deren Geburt (!) in die Handlung ein. Alles ist sehr gemächlich. Weitschweifig möchte man sagen. Langatmig teilweise. Aber nie uninteressant. Dazu schreibt King mit zuviel Lebensweisheit, Empathie, unerwartet viel Humor und bewegend-persönlicher Alkohol-Erfahrung. Viele, sehr viele Zeilen darf man wohl als großes Dankeschön an die AA verstehen. Auch wenn man sich zugunsten der Dichte hätte kürzer fassen können. Die Verknüpfung zwischen Anfang und Ende läuft im Mittelteil etwas aus dem Ruder.
kinopotenzial? Aber ja!
So wirkt der Grusel im letzten Drittel fast wie ein Bruch. Nichtsdestotrotz zieht der Autor noch einmal alle Register, wenn er die inzwischen 12-jährige, übersinnlich extrem begabte Abra und Dan Torrance auf die Psycholeute vom Wahren Knoten treffen lässt, die ihrerseits über einige Talente verfügen. Dabei arbeitet er viel mit Informationslücken, curiosity gaps, die eine hohe Spannung erzeugen, indem Dinge immer wieder nur angedeutet werden. Die Möglichkeiten des Shinings werden grandios ausgereizt. Mehr als einmal trauert man um den bereits 1999 verstorbenen Stanley Kubrick, der den Vorgänger so kongenial verfilmt hat. „Doctor Sleep“ hat etliche starke Momente, die Mike Flanagan, der ersten Informationen zufolge mit der Umsetzung fürs Kino beauftragt wurde, hoffentlich zu einem ähnlich überzeugenden Ergebnis zusammenführt wie zuletzt seinen Netflix-Erfolg „Haunting of Hill House“.
Jack fehlt
Insgesamt ist „Doctor Sleep“ nicht DIE Horrorgeschichte, die viele von einem Stephen King erwarten würden. Sie zeigt, wie schon seit einigen Jahren zu beobachten, eine nachdenklichere, versöhnlichere Seite des Autors. Im direkten Vergleich mit „Shining“ fehlt ein Jack Torrance, der den Leser über seine charismatische Ambivalenz einfängt. Das kann eine an Selbstherrlichkeit kaum zu übertreffende, aber zu berechenbare Antagonistin wie Rose the Hat nicht ausgleichen.
Trotzdem ist „Doctor Sleep“ auch ein typischer King. Nicht nur wegen des Wortreichtums, der viel zur Realitätsnähe der Charaktere beiträgt. Sondern schlicht deshalb, weil es eine richtig gute Geschichte ist, die trotz ihrer Längen einer bemerkenswerten Logik folgt, in der alles miteinander zusammenhängt und ausbalanciert wird.
Den Vorgänger „Shining“ muss man zum Verständnis nicht zwingend gelesen haben. Sollte man aber, da immer wieder Bezüge einfließen und die Chronik der Familie Torrance auf Teil eins aufbauend abgerundet wird.
Warum ich übrigens noch kein einziges Wort über die Umsetzung des Audio-Books verloren habe, ist schnell erklärt: David Nathan! Es gibt wenige Sprecher, die so angenehm-unaufdringlich und gleichzeitig einfühlsam-intensiv lesen. David Nathan gelingt dies fast immer. Top!
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„Doctor Sleep“ (Shining-Reihe 2) von Stephen King
Übersetzung: Bernhard Kleinschmidt
Sprecher: David Nathan
Verlag: Random House Audio
Ungekürzte Fassung: 20 Stunden und 18 Minuten
Erschienen: 28. Oktober 2013
ASIN: B00FQQ1HQO