"Nicu & Jess" von Sarah Crossan und Brian Conaghan, Jugendbuch
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Wenn man einen Stiefvater hat, der die eigene Mutter regelmäßig grün und blau prügelt, steht man nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens. So wie Jess, die ihre Probleme mit Diebestouren und Zigaretten kompensiert. Ziemlich schattig ist das Leben auch, wenn man in einem Land lebt, dessen Sprache man nicht beherrscht. Wenn man jeden Tag und jede Minute spürt, dass man unerwünscht ist und noch dazu bald zwangsverheiratet werden soll. Das ist die Realität von Nicu, ein Roma-Junge in Großbritannien nach dem Brexit. Als Jess und Nicu sich treffen, prallen Welten aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch werden beide voneinander angezogen wie Planeten im Weltall.

Zu „Nicu & Jess“ hat Kathrin schon ihre Meinung geschrieben. So treffend, dass ich mich gar nicht lange auslassen will. Ein paar Worte möchte ich aber loswerden, denn das Buch hat Aufmerksamkeit wirklich verdient. Warum es auf goodreads soviele schlechte Bewertungen bekommt, ist mir schleierhaft. Vermutlich entspricht „Nicu & Jess“ nicht unbedingt dem Mainstream. Schon rein formal ist es besonders mit seinen kurzen Kapiteln in Versoptik, in der Jess und Nicu abwechselnd berichten. Und sicher polarisiert das Buch auch. Die Bezeichnung „moderne Romeo-und-Julia-Geschichte“ steht nicht umsonst auf der Rückseite. Nur geht es hier nicht um zwei verfeindete Familien, sondern – ganz aktuell – um verschiedene Kulturen und viel soziale Brisanz. 

Mir hat dieses Buch unglaublich gut gefallen. Die Prämisse ist sofort präsent, der Erzählstil so originell und bündig, dass bei mir umgehend das Kopfkino ansprang. In dem
harten Milieu, in dem Nicu und Jess leben, werden Außenseiter gemobbt,
Cliquen, Gangs, familiäre Zwänge und Gewalt gehören zum Alltag. Die
Infrastruktur des sozialen Netzes kommt nicht gut weg, wirkt vollkommen
realitätsfremd. Nicu ist auf sich alleine gestellt. Aber auch Jess, die
in England geboren und mit der Kultur vertraut ist, fällt durch die
Löcher des Systems. Wie sich diese beiden verlorenen Teenager langsam
annähern und dabei viel einstecken müssen, davon erzählt die Geschichte berührend schön, aber
auch heftig berührend. Oft hatte ich einen dicken Kloß im Hals. Sarah Crossan und Brian Conaghan sensibilisieren eindringlich für Menschen, die in unserer
Gesellschaft hinten rüber fallen, ein Umstand der sich vor dem
Hintergrund großer Flüchtlingswellen nochmal drastisch verschärft.

Dass sich die Ereignisse gleichzeitig tragisch und locker lesen, liegt am unverblümten, authentischen Ton der beiden Protagonisten. Der Kontrast zwischen der nach außen hin coolen Jess und dem sensiblen Nicu hat einen ganz eigenen Rhythmus. Nicus radebrechenden Passagen haben mich anfangs irritiert, später dann regelrecht verzaubert. Wenn er Dinge falsch versteht und im verkehrten Kontext antwortet, ist das abwechselnd amüsant und ergreifend. Mit seinem beschränkten Sprachschatz kreiert Nicu wundervolle Wortbilder, die fast schon poetisch sind.

„Und ich träumen von dir letzte Nacht,
aber meine Augen nicht schließen für schlafen,
und es regnet in meine Magen
und es stürmt in meine Herz.“ (S. 200)

Trotz oder gerade wegen des luftig gesetzten, komprimierten Textes hat man das Gefühl, unverhältnismäßig viel Inhalt zu bekommen. Nicht zuletzt dank der genialen Übersetzung wirkt die Geschichte an keiner Stelle künstlich-gestelzt. Wenn das irisch/schottische Autorenduo irgendwann beschließen sollte, eine Fortsetzung zu schreiben, würden sie mir damit einen großen Wunsch erfüllen. Der Schluss ist offen und sehr dramatisch, wie es sich für einen von Shakespeare inspirierten Text gehört. Aber mein Herz wünscht sich sehnsüchtig ein anderes Ende.

Fazit: Ein Jahreshighlight für mich! Wenig Text, viel Inhalt, wichtige Themen, die eindringlich, fesselnd und kreativ umgesetzt worden sind und mich von der ersten bis zur letzten Seite für „Nicu & Jess“ haben brennen lassen. Meiner Meinung nach eignet sich dieses Buch auch wunderbar für den Schulunterricht, denn es passt perfekt in die Zeit, ist sprachlich bemerkenswert und einfach ein sehr besonderes Stück Jugendliteratur.



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Nicu & Jess von Sarah Crossan und Brian Conaghan
Übersetzung: Cordula Setsman Original: We come apart 
Hardcover: 330 Seiten
Verlag: Mixtvision
Erscheinungsdatum: 27. Februar 2018
ISBN: 978-3958541061
Altersempfehlung: 14 – 17 Jahre

2 Replies to “[Rezension] „Nicu & Jess“ von Sarah Crossan und Brian Conaghan

  1. Wow, das klingt gut, interkulturelle Themen oder auch sozial brusante, nicht nur auf Kuschelkurs, das fällt in mein Interessengebiet:) Das hast du schön rezensiert! Auch die Schreibweise des Buchs scheint interessant zu sein…. Liebe Grüße, Kathrin

  2. Interessant ist sie auf jeden Fall, sicher auch Geschmackssache. Aber ich war geflasht, wie viel man mit so wenigen Worten ausdrücken kann. Ich habe das Buch wirklich verschlungen und möchte jetzt auch noch mehr von den Autoren lesen. Das Ende ist etwas abrupt, aber das hatte keine Auswirkungen bei meiner Bewertung. Ich habe mich sehr gerne auf diesen tollen Stil eingelassen…

    Liebe Grüße und einen schönen 1. Mai 🙂
    Alex

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