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Manche Leser werden nach der Lektüre dieses Buches keinen Fuß mehr auf ein Kreuzfahrtschiff setzen. In „Passagier 23“ betritt der psychisch schwer angeschlagene Undercover-Ermittler Dr. Martin Schwartz just das Terrain, das Auslöser seines persönlichen Traumas ist: Auf dem Ozeanriesen „Sultan of the Seas“ verschwanden Ehefrau und Sohn. Videoaufnahmen beweisen, dass beide offenbar freiwillig ins Meer gestürzt sind. Sie bleiben verschollen. Wie man es von Fitzek gewohnt ist, sticht nun nicht der Ermittler nur in See, sondern der Autor gleich in mehrere aktuelle Wespennester. Eines davon: Auf den Luxuslinern gehen weltweit hunderte Passagiere und Besatzungsmitglieder über Bord, manche in Suizidabsicht und manche, die anderen Menschen unliebsam geworden sind. Umfassende Suchaktionen verbieten sich aus ökonomischen Gründen für die Reedereien, da Abweichungen von Reiserouten und Terminplänen Millionenklagen zur Folge haben können. Ermittlungen werden eingestellt, Angehörige mit Fragen und Kummer allein gelassen.
Nun sind Orte, denen man nicht leicht entfliehen kann, – eine einsame Insel, ein abgelegenes Landhaus oder eben ein mondänes Schiff –, beliebte Topoi des Kriminal- und Thriller-Genres. Der dramaturgische Kniff ergibt sich wie in einem Kammerspiel en passent: Der Kreis der Verdächtigen wird dramatisch eingeschränkt, jeder misstraut jedem. Die Hermetik des Schauplatzes erfüllt dabei jene Voraussetzungen, von denen diese Romane ihre atmosphärische Dichte beziehen, bei Thrillern, wie „Passagier 23“, weil das Unentrinnbare des Daseins, das keinen Fluchtgedanken zulässt, im Leser kathartisches Grauen entfacht. Klaustrophobisch gruselig wird es auf Fitzeks „Sultan“, wenn er die Handlung in den Bauch des Schiffes verlegt. Tief unter dem Meeresspiegel, ohne Tageslicht, hinter sich automatisch verriegelnden Türen geschieht das Unfassbare. Und das lässt Spielraum für eigene Ängste, die auf die Geschehnisse projiziert werden und beim Lesen ein mulmiges Gefühl hinterlassen.
Sebastian Fitzek kann erzählen, ohne Frage. Leider biedert er sich manchmal mit allzu saloppen Sprüchen seinen Lesern an. Dennoch, in rasantem Tempo jagt er von Kapitel zu Kapitel, die im bewährten Cliffhanger-Stil miteinander verknüpft sind. Schnelle Perspektivenwechsel sind spannungsreich inszeniert. Gerade wenn der Erzähler dicht an seinem Helden dran ist und sich beim Leser im Augenblick der Gefahr oder Erkenntnis die Nackenhaare aufstellen, wechselt Fitzek blitzschnell zu einem anderen Schauplatz, wo anderes Überraschendes oder Geheimnisvolles geschieht. Eine Lektüre mit angehaltenem Atem ist so garantiert.
Fitzek liefert professionelle Handwerkskunst, die ihm zu Recht einen Spitzenplatz in den Charts des deutschen Kriminalromans beschert. Denn Langeweile lässt diese Art des Erzählens nicht aufkommen. Freilich fordert sie auch keine Gedankenarbeit. Bis zur Auflösung des Falles fehlen die Verbindungsstücke zu einzelnen Geschehnissen. Vielmehr: es gibt sie gar nicht. Absichtlich wird der Leser auf Irrwege geleitet. Fehlinterpretationen von Ereignissen, Wendungen und Phänomenen sind einkalkuliert. Fitzek setzt ganz auf das überraschende Finale, in dem sich „Simsalabim!“ alle Puzzleteile zusammenfügen.
Hier liegt das Problem des neuen Fitzek: Ein guter Thriller muss sich nicht an der Wirklichkeit messen lassen. Aber Fitzek lässt seinen Helden bis zur bitteren Neige ein Bild wahrheitsvoller Wirklichkeit zusammenzimmern, dessen mühselig-gewollte und wackelige Konstruktion verstimmt. Auf diese Weise fällt die Brisanz des gesellschaftskritischen Themas, das in den Ermittlungen – neben den Machenschaften der Reedereien – zutage gefördert wird, der absurden, unglaubwürdigen Geschichte zum Opfer. Kurz, es gibt gute Gründe, kein Kreuzfahrtschiff zu betreten. Die Lektüre von „Passagier 23“ sollte niemanden davon abhalten.