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Dieser Italiener ist ein Widerling. Gut und böse sind für ihn variable Größen. Seine Haltung gegenüber dem Gesetz ist ebenso fragwürdig wie seine Vorstellungen von Sitte und Moral eigenwillig. Frauen sind fürs Bett, Mitarbeiter zu gar nichts zu gebrauchen. Gerne raucht er zum Frühstück einen Joint und dealt abends im Großformat mit beschlagnahmter Ware. Intimsphäre, Briefgeheimnis, Hausfrieden? Leere Worthülsen! Seine Verhörmethoden sind brutal: Um an die Blutgruppe eines Verdächtigen zu kommen, brummt er seinem Opfer kurzerhand eins auf die Nase.
Solche Großstadt-Cowboys mit dubioser Vergangenheit und irritierendem Sozialverhalten sind ursprünglich im Detektivroman des angloamerikanischen Raums beheimatet. Das Besondere in „Der Gefrierpunkt des Blutes“: Es ist kein Schnüffler, der in Antonio Manzinis Debütroman mault, kifft und prügelt, sondern Rocco Schiavone, Vicequestore im Commissariato von Aosta. Wegen irgendeiner krummen Sache ist er aus dem geliebten Rom in die tiefverschneiten Alpen strafversetzt worden und fristet, mit sich und der Welt im Unreinen, ein lasterhaftes Dasein.
Schiavone ist als Mensch ein Gottseibeiuns, als Ermittler aber genial. Das kann er unter Beweis stellen, als unweit des alpinen Abfahrtvergnügens das Grauenhafte geschieht. Eine Schneefräse, die die Pisten nach den Wünschen der Touristen aufbereiten soll, zerlegt in der Dunkelheit einen Mann in seine Bestandteile. Doch dem, so findet der Pathologe heraus, stecken nicht nur Zunge und Zähne im Hals, sondern auch ein mit fremder DNA besudeltes blutiges Tuch. Was zunächst wie ein schreckliches Unglück eines einsamen Spaziergängers aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als teuflisches Verbrechen.
Atemlos folgt der Leser der Logik des Bösen, die der Kommissar rekonstruiert – und Manzinis geschickter, konziser Erzählung. Der an Seiten relativ schmale Kriminalroman verwirft rasch sämtliche Spuren, die aus dem Umfeld des Toten hinauslaufen. Übrig bleibt ein präzise entworfenes Kammerspiel, an dem eine Handvoll Menschen beteiligt ist. Sie alle versuchen, dem Vicequestore fragile Wahrheiten zu vermitteln, die dieser in einer effizienten Mischung von erworbener Intuition, brutalem Durchsetzungsvermögen und schnöder Polizeiarbeit demontiert und zu einem stimmigen Bild wieder zusammenfügt.
Erzählt wird ein italienischer Krimi, der die freundlich-charakterfesten Rotwein nippenden Brunettis und Montalbanos in das Antiquaritat stellt, und dabei ohne Mafia auskommt. Umso irritierender ist es, dass gerade der unredliche und bestechliche Schiavone die stets virulente Grausamkeit der Menschennatur in einem kleinen verschneiten Nest aufspürt. Hier kennt jeder jeden, und der Klatsch blüht wie die Eisblumen an den Fensterscheiben der Sennhütten. Und während Manzini seiner Leserschaft Anerkennung für Schiavones kriminalistische Leistung abtrotzt, geschieht ganz nebenbei das Unerwartete: Meilenweit von einem Sympathieträger entfernt, wird der Kotzbrocken selbst zu einem spannenden Fall, als hinter der Fassade die Schemen eines zutiefst verstörten Menschen auftauchen.
Dieser korrupte und bösartige Ermittler ist ein Novum in der Kriminalliteratur. Mehr Rocco Schiavone, möchte man dem Erzähltalent Antonio Manzini zurufen. Aber dann müsste die Vergangenheit des Widerlings im Dunkeln bleiben, um ihn als interessante Ermittlerfigur zu retten. Will man dies? Alternativ könnte die private Vergangenheit des Kommissars ans Licht kommen. Aber dann käme Schiavone vermutlich in eine Therapie und hörte auf, ein Widerling zu sein. Will man das? Antonio Manzini ist zuzutrauen, noch ganz andere, überraschende Ideen zu entwickeln.
„Der Gefrierpunkt des Blutes“ von Antonio Manzini