Liebe Kürbisgeister, als ich vor ein paar Tagen ein Buch zu lesen begann, stellte sich schon nach ein paar Zeilen ein bestimmtes Lesegefühl ein – eine Mischung aus Nostalgie, Traurigkeit, Begeisterung und Melancholie – das mich (leider) nur sehr selten befällt, nämlich nur bei ganz besonderen Büchern, die mich positiv erschüttern, bei denen ich das Gefühl habe, der Autor – obwohl er seine ganz eigene Geschichte erzählt – spricht mir aus der Seele. Oft lassen sich diese Bücher auch gar nicht so selbstverständlich weiterempfehlen, denn was meinem Geschmack entspricht, muss nicht zwangsläufig – und zum Glück! – den Mainstream treffen. Eines meiner ganz persönlichen Juwelen ist beispielsweise J. R. Moehringers literarisches Debüt „Tender Bar“ – eine berührende Autobiografie, die mich Zeile für Zeile in den Bann zog. Nun ist endlich wieder einmal über Umwegen ein Buch in meine Hände geraten, das dieses brodelnde Lesegefühl aus Nostalgie, Wehmut und Glückseligkeit bei mir auslösen konnte: Neil Gaimans „Der Ozean am Ende der Straße“. Aufgefallen war es mir zuerst durch eine Blogvorstellung neuer Herbstbücher – klar, das Cover sieht großartig stimmungsvoll aus, nicht wahr? Dann bot sich eine Gelegenheit zum Tausch und als ich es aus dem Briefkasten zog, schmökerte ich auch gleich einmal halbherzig drauflos – wurde jedoch sofort in den Bann gezogen und von einem Strudel aus Gefühlen mitgerissen. Neil Gaimans dunkle Fabel für Erwachsene wird bestimmt nicht auf jeden Leser diese Wirkung haben, aber ob ihr zu denen gehört, die ein paar Tage von einer unvergesslichen mystischen Welt verzaubert werden, die noch lange nachhallt, solltet ihr unbedingt herausfinden. Obendrein passt dieses poetische Zauberwerk hervorragend zu den nebligen Herbstabenden, die uns bis Halloween heimsuchen, denn die Fantasyelemente der Geschichte sind wunderbar schauerlich. 

Die Geschichte beginnt mit dem Besuch eines namenlosen

Protagonisten, der für eine Beerdigungsfeier in sein Heimatdorf in Sussex zurückkehrt. Gedanken an seine Kindheit suchen ihn heim und leiten ihn zu einem Ort, an den er sich lange nicht erinnert hat: an einen Ententeich am Ende eines alten Gehöfts, auf dem das Mädchen Lettie Hempstock wohnte. Und während er den Ententeich, Letties „Ozean“, betrachtet, fällt ihm alles wieder ein…

„Ich war kein glückliches Kind, auch wenn ich hin und wieder ein zufriedenes war. Ich lebte mehr in meinen Büchern als irgendwo sonst.“ (S. 24)

Der Leser wird mitgenommen auf eine Reise in die Vergangenheit, in die Kindheit und in die menschlichen Abgründe. Der Ich-Erzähler ist in der Rückblende ein Außenseiter – niemand folgt seiner Einladung zu seiner 7. Geburtstagsfeier, sodass er sich wie immer, aber ohne Gram, in die Welt seiner Bücher zurückzieht, bis er von den seltsamen Ereignissen, die nach und nach seine Siedlung befallen, abgelenkt wird: In Zeiten der Geldnot tauchen plötzlich im ganzen Dorf haufenweise Münzen auf, die den Jungen im Traum zu ersticken drohen. Die Erwachsenen benehmen sich merkwürdig, eine Katze wird getötet, ein Opalschürfer begeht Selbstmord und über allem scheint drohendes Unheil wie eine unheimliche Gewitterwolke zu schweben, kurz: das Böse geht um. Als der Junge die Hempstocks am Ende der Straße kennenlernt, scheint ein Ausweg gefunden zu sein. Die mysteriösen Damen dreier Generationen gehören zu einer anderen Welt, die es nun zu erkunden gilt, um das Böse zurückzuschicken – doch das hat sich schon in Gestalt eines attraktiven Kindermädchens Zugang zum Familienleben des Jungen verschafft…

„Jetzt liefen wir unter einem Baldachin aus Apfelblüten dahin, und die ganze Welt duftete nach Honig. ‚Das ist das Problem mit lebenden Dingen. Sie sind nicht von Dauer. Heute ein Kätzchen, morgen eine Katze. Und dann nur noch eine Erinnerung. Und die Erinnerungen verblassen, gehen ineinander über und verlieren sich…'“ (S. 226)

Einerseits sind die beschriebenen Ereignisse im Leben des jungen Protagonisten brutal und traurig, andererseits verliert man sich als Leser keineswegs in Mitleid, denn das hat der Junge gar nicht nötig. Vielmehr werden reale, lebensnahe und zumal grausame Situationen des Lebens geschildert, die es mit Mut, Kameradschaft und Rechtschaffenheit zu meistern gilt – etwas, das wir alle einmal zu einem Zeitpunkt in unserem Leben erfahren mussten. Als Leser erkennt man sich – mal mehr mal weniger – in dem Kind wieder und erinnert sich an die eigenen Jugendtage, in denen die Frühlings- und Sommerferien noch endlos erschienen und die Freundschaften einzigartig waren. Wer unter uns hat keinen Ententeich, kein Baumhaus oder keine Lichtung, die das Tor zu einer anderen, fantastischen Welt waren? Was den Leser besonders mitnimmt, ist nicht das Schicksal des Jungen, sondern wie früh er die Lektionen des Lebens erfahren muss. Die Traurigkeit, die einen dabei überkommt, wird jedoch schnell von Stolz verdrängt, denn der Junge beweist echte Tapferkeit und stellt sich seiner Angst. Dabei ist er nicht heroisch und aufgesetzt, sondern realitätsnah und auf bezaubernde Weise kindlich, ernst und außerordentlich gewinnend.

„Wie kannst du in dieser Welt glücklich sein? Du hast ein Loch in deinem Herzen. […] Und dieser Mangel wird dir den Schlaf rauben, dich Tag und Nacht heimsuchen, bis du zum letzten Mal die Augen schließt […] und selbst dann wirst du mit einem Loch in dir sterben, und du wirst schreien und fluchen, weil du dein Leben vergeudet hast.“ (S. 187)

Neil Gaiman verwebt realistische Ereignisse und Problematiken wie Alleinsein, häusliche Gewalt, Ehebetrug, Selbstmord, Krankheit, Konsumgesellschaft, Machthunger mit fantastischen Elementen, sodass eine philosophische Parabel aufs Leben und aufs Erwachsenwerden entsteht: Wahre Freundschaft hilft jedem Menschen, so manchen Schicksalsschlag auszuhalten und ein unerschütterlicher Glaube an sich selbst kann das Dunkle und die Angst vertreiben. Ein „Loch im Herzen“ mag ein Einfallstor für das Böse sein, doch Integrität entzieht diesem den Nährboden.

Ein paar Tage nachdem ich das Buch zugeklappt hatte, ging mir der Schlusssatz aus „Stand by Me“ – einer stimmungsvollen Stephen King-Verfilmung aus den 80er Jahren über die Freundschaft vierer Jungen – durch den Kopf, der die Atmosphäre dieses dunklen Märchens angemessen widerspiegelt und mit der auch ich nun meine Empfehlung schließen möchte: „I never had any friends later on, like the ones I had when I was
twelve. Jesus – does anyone?“

Für diejenigen unter euch, die schauerliche Lagerfeuerstimmung lieber durch Beschallung erzeugen, noch ein Tipp: „Der Ozean am Ende der Straße“ ist bei Bastei Audio auch als Hörbuch erschienen. Meinem Geschmack entspricht das geschriebene Wort hier eher, denn derart bedeutungsvolle Geschichten lese ich lieber in meinem eigenen Tempo. Ich denke aber, dass der Verlag mit Hannes Jaenicke als Sprecher eine hervorragende Wahl getroffen hat und dass dessen raue Stimme der Story die rechte Stimmung verleiht. Und auch die Übersetzung ins Deutsche ist wunderbar gelungen.

Zum Autor: Der Engländer und Journalist Neil Gaiman ist in der Literaturwelt kein Unbekannter –
auch wenn er mir bisher unverzeihlicherweise noch nicht untergekommen
ist. Er hat für seine Comics, Drehbücher, Sci-Fi und Fantasy-Storys
bereits zahlreiche Preise erhalten („Der Ozean am Ende der Straße“ war „Buch des Jahres 2013“ in Großbritannien) und unter anderem mit Terry Pratchett und Douglas Adams zusammen gearbeitet. Er lebt in den USA.

„Der Ozean am Ende der Straße“ von Neil Gaiman
Hardcover: 238 Seiten
Verlag: Eichborn Verlag / Bastei Lübbe
Erscheinungsdatum: 8.10.2014
ISBN: 978-3-8479-0579-0

8 Replies to “Halloween-Special – Folge # 3: Neil Gaimans „Der Ozean am Ende der Straße“

  1. "Wahre Freundschaft hilft jedem Menschen, so manchen Schicksalsschlag auszuhalten und ein unerschütterlicher Glaube an sich selbst kann das Dunkle und die Angst vertreiben. Ein "Loch im Herzen" mag ein Einfallstor für das Böse sein, doch Integrität entzieht diesem den Nährboden"

    Wow!!! Darf ich das kopieren und meine Wohnung damit tapezieren? Du bist der Wahnsinn!!!

  2. Hallo,

    mich erinnert die Art des Buches an "Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte". Es ist ebenfalls im Eichborn Verlag erschienen. Vielleicht ist die Art des Buches daher ähnlich und könnte für dich auch ein Buchtipp sein.
    Schöne Rezi. Man spürt deine Begeisterung.
    Liebe Grüße
    Andrea

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