"Ghetto Bitch" von Gernot Gricksch
Copyright: Dressler

Beim
Konzert von Hip-Hop-Queen Lisa T. ist Neles Welt noch in Ordnung: Die 17-jährige
ist mit Daniel, dem begehrtesten Jungen der Schule, zusammen und wird von allen
Mädchen beneidet. Ausgelassen feiert sie mit ihren Freunden zum angesagten
Ghetto Chic und fährt nach dem Konzert bequem zurück in die elterliche Villa im
vornehmen Hamburger Stadtteil Poppenbüttel. Nele geht mit dem Gefühl ins Bett,
dass ihr Leben ziemlich „fucking perfect“ ist. Einzig Bruder Timo nervt mit seinem
ungepflegtem Äußeren und seiner Begeisterung für Death Metal. Aber den kann Nele
meistens gut ausblenden.                 
Dann
bricht Neles heile Welt zusammen: Ihr Vater stirbt bei einem Autounfall und hinterlässt
einen Berg Schulden. Begriffe wie Insolvenz, Hartz IV und Schulwechsel kommen ins
Spiel. Kurz darauf muss die Familie in eine Sozialwohnung nach Steilshoop
ziehen. Von der Upper Class ins Ghetto – für Nele und Timo ist das ein krasser
Bruch, der zu vielen Problemen und einigen überraschenden Erkenntnissen führt.

„Ghetto Bitch“ war für mich eines dieser Rauschbücher, die man richtiggehend inhaliert
– nach den ersten Zeilen war ich mittendrin, plötzlich hatte ich 100 Seiten
gelesen, ein paar Stunden später das ganze Buch. Und weil der Erzählstil zwar
grundsolide ist, sonst aber eigentlich keine Besonderheiten aufweist, liegt der
Grund dafür wohl in den Komponenten der Geschichte, die wie geschmiert zusammenlaufen,
in einer ausgewogenen Mischung aus Ernst und Leichtigkeit.

Erzählt
werden abwechselnd die Erlebnisse von Nele und Timo, wobei Nele zwar die
Hauptfigur ist, ihr Bruder Timo aber mit all seinen Problemen und seiner
Individualität kaum weniger Raum einnimmt. Schließlich ist da noch die
Beziehung der beiden zueinander, die anfangs
gegen null geht und sich unter den veränderten Bedingungen neu finden muss.

Ich
mochte sowohl Nele als auch Timo sehr gerne. Beide sind normale pubertierende
Teenager, die sich gegenseitig einfach nur nervig finden – Jugendliche mit
Stärken und Schwächen, weder phänomenal gut aussehend, noch unglaublich reif.
Gerade weil sie auch Fehler begehen, bereichern sie eine unterhaltsame
Geschichte um wichtige Unebenheiten. Man ist als Leser unheimlich neugierig,
wie es Timo, der in seiner alten Schule übel von einem Mitschüler gemobbt wird
und daher gar nicht so unglücklich über den Umzug ins unfeine Steilshoop ist,
ergehen wird. Und man verfolgt amüsiert, wie Neles schlimmste
Klischeevorstellungen von Ghettoschlägern, Glitzerleggings und Kopftüchern auf
die echte Welt prallen, wo sich einiges als allzu wahr entpuppt, anderes aber lange
nicht so schwarz-weiß ist, wie Nele angenommen hat. Vor allem mit einem hat sie
nicht gerechnet: dass sie sich bei den „Assis“ Hals über Kopf verlieben könnte!

Es
ist bestimmt nicht leicht, dem Thema „Sozialer Status“ gerecht zu werden, ohne
in Stereotype oder Bitterkeit abzugleiten. Gricksch, finde ich, hält hier eine
gute Balance – er spricht ernste Themen wie Perspektivlosigkeit, Zwangsehe und
Drogen an und setzt all dem ein kleines Augenzwinkern entgegen. Geschickt
leitet er zu Schicht und Geschlechter übergreifenden Themen über – Familie,
Freundschaft, Liebe, Hass, Feigheit, Mut und ganz generell der Suche nach der
eigenen Identität.

Was
die Geschichte vorantreibt, sind die kleinen und größeren
Reibungspunkte, von denen Gricksch gerade so viele konstruiert, dass
durchgehend Spannung und Dramatik vorhanden ist, man als Leser aber trotzdem
nicht von den Ereignissen erdrückt wird.

Wesentlich
zum Gelingen dieses Spagates tragen die Nebenfiguren der Geschichte bei, in die
ich mich zum Teil regelrecht verliebt habe – allen voran in die aufgedrehte Ginny
und den angenehm schwer fassbaren Rick. Erwachsene bleiben übrigens weitestgehend
außen vor, geben aber in den wenigen, ihnen zugedachten Szenen dennoch ein
prägnantes Bild ab. (Kurzer Zwischenruf ins Universum: Kann ich bitte, bitte im
nächsten Leben eine Lehrerin wie Frau Zwieriga in Geschichte haben?;-))

Fazit:
Nach „Königskinder“ und „Die Paulis außer Rand und Band“ war dies mein drittes
Buch von Gernot Gricksch und bestimmt nicht mein letztes. „Ghetto Bitch“ ist
eine gelungene Mischung aus Aschenputtel-rückwärts, Vorstadtkrokodile und Fuck ju
Göhte, eine lockere Geschichte von Oberschichtkindern im sozialen Brennpunkt, der
unverkrampft auch ernste Töne gelingen.

WERBUNG
Folgende Links kennzeichne ich gemäß § 2 Nr. 5 TMG als Werbung

Ghetto Bitch von Gernot Gricksch 
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten 
Verlag: Dressler
Erscheinungsdatum: 9. Mai 2016 
ISBN: 978-3791500065 
Vom Hersteller empfohlenes Alter: 14 – 17 Jahre

6 Replies to “[Rezension] „Ghetto Bitch“ von Gernot Gricksch

  1. @Kath. Huhu. Ich finde das Cover eigentlich ganz gut. Es fällt auf, es ist knallig und ich glaube, es spricht Teenager an. Aber wahrscheinlich hätte es mich auch nicht so angesprochen, wenn mir der Autor nicht schon vorher ein Begriff gewesen wäre. 😉
    @Verena. Du hast das Buch mit deinen Schülern gelesen? Super! Wir haben in der Schule früher ausschließlich Klassiker durchgesickert. Aschenputtel-rückwärts, der Begriff kam mir in den Kopf, weil Nele anfangs alles hat incl. Traumprinz und dann alles verliert. Am Ende gibt es dann diese High Society Party (den Ball, auch wieder mit Prinz:-), zu der Nele gar nicht möchte und dann abhaut… und ich fand auch, dass man irgendwie ein gutes Ende von der Story erwartet. Also irgendwie ein bisschen Märchen. Aber anders. Ich hoffe, ich konnte mich ausdrücken.

  2. Hallo,
    eine schöne, aussagekräftige Rezension hast du geschrieben. Mir ist das Buch auch aufgefallen, aber ich hatte bisher einfach keine Zeit dafür. Ich habe gerade einen neuen Kinderbuch-Blog eröffnet (Jugendbücher sind auch dabei) und versuche nun, Kontakt zu anderen Buch-Bloggern zu bekommen. Es würde mich sehr freuen, wenn du bei mir vorbei schaust, ich bin auch bei Google+ und Facebook.
    http://kinderbuch-detektive.de

    Liebe Grüße, Anna

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