"Anonym" von Ursula Poznanski und Arno Strobel, Thriller
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Wie weit gehen Menschen, wenn sie im Schutze einer
unbekannten Masse Rache üben dürfen? Mit dieser Frage beschäftigen sich Ursula
Poznanski und Arno Strobel in ihrem zweiten Gemeinschaftswerk „Anonym“. Stroblanski
(wie das Autorenteam bereits liebevoll namensfusioniert wird) legen hierbei
eine Spur von der Hamburger Gutbürgerlichkeit bis ins Darknet, jenem Teil des
Internets, das den meisten Usern aus gutem Grund verborgen bleibt, da sich dort
die Kriminalität ein gut geschütztes Zuhause geschaffen hat. Auch der ominöse
Trajan ist im Darknet aktiv: Über die Onlineplattform „Morituri“ lässt er
regelmäßig Kandidaten nominieren und anschließend über deren „Beliebtheit“
abstimmen. Die nichts ahnenden Gewinner dieser Challenge erhalten als „Preis“
einen qualvollen Tod, den das sensationslüsterne Publikum mit morbider Lust per
Webcam live verfolgt.

In ihrem ersten gemeinsamen Fall ermitteln die Hamburger
Kommissare Daniel Buchholz und Nina Salomon daher nicht nur gegen einen
psychopathischen Serienkiller, der im Namen des Volkes das angebliche Schwert
der Gerechtigkeit schwingt, sondern auch gegen einen namenlosen, entfesselten
Mob, der Menschen teilweise aufgrund von Bagatelldelikten oder aus purer
Boshaftigkeit auf eine virtuelle Todesliste setzt. Ein Kampf gegen Windmühlen,
bei dem Buchholz und Salomon dem Täter immer ein paar Schritte hinterher hinken
und die konventionelle Polizeiarbeit zu scheitern droht.

„Anonym“ überzeugt neben der vordergründigen
Spannungsgeschichte mit einem bitterbösen Blick auf die Hasskultur des
Internets in all ihrer philisterhaften Niederträchtigkeit. Die Idee erinnert an
Chris Carters Thriller „Der Totschläger“. In beiden Büchern entwickelt sich aus
der Anonymität eines Netzwerkes heraus eine kaum noch bremsbare Eigendynamik.
Jeder, der schon einmal
durch die Kommentarleisten von Internetforen gescrollt hat, wird die skrupellose
Herzlosigkeit auf „Morituri“ für erschreckend echt befinden. Poznanski und
Strobel treiben diese lediglich auf die bluttriefende Spitze. Da wird neben dem
unfähigen Arzt und dem berechnenden Anwalt, kurzerhand der nervige
Hundebesitzer zum Abschuss freigegeben und auch der jungen Frau, die immer
Glück hat, wünscht man von Herzen ein bisschen Sterbepech an den Hals. Womit
sich die Nominierer als die eigentlich Charakterlosen entlarven.

Die Entschlüsselung des Falles ist allerdings kniffelig und meiner
Ansicht nach nicht durchgängig gelungen. Das liegt zum einen an der Willkürlichkeit
der Mordserie und dem Fehlen jeglicher Anhaltspunkte. Diese Umstände bauen sich
wie eine unüberwindbare Wand vor den Kommissaren auf. Zum anderen erschweren sich
die Polizisten ihre Ermittlungen zusätzlich selbst. Wie es in dem Genre gang
und gäbe ist, bringen die Kommissare Marotten und private Probleme mit in die
Geschichte, die auch ins Berufliche spielen. Salomon und Buchholz finden
aufgrund ihrer persönlichen Eigenheiten allerdings besonders mühsam zu einer vernünftigen
Kommunikation.

Ich habe meine Detektive zwar gerne menschelnd aber auch
bedacht und da erwies sich vor allem Nina Salomon – die wohl aus gutem Grunde
gerade erst nach Hamburg strafversetzt wurde – häufig als genaues Gegenteil.
Sie ist ein emotionaler, unkonventioneller Charakter, der es mit Regeln nicht so
genau nimmt und zu waghalsigen Alleingängen tendiert. Liebend gerne hätte ich
sie zwischendurch vor einigen Dummheiten bewahrt, die die Geschichte zwar entscheidend
vorantreiben, mir aber nicht glaubwürdig schienen und einer überlegten Beamtin
auch nicht würdig sind. Nina Salomon bringt viele Gefühle – in allen
Ausprägungen – in die Geschichte. Damit aber auch einigen Zündstoff und viel
Ärger für Kollege Buchholz, mit dem ich zwar größtenteils gut zurechtkam, den
ich andererseits aber auch sehr viel weniger als Salomon zu kennen glaube. Er
ist ein logischer, an Regeln angepasster Typ mit ausgeprägtem Putzzwang, der
anfangs steif und schrullig wirkt, aber das Herz am rechten Fleck hat und im
Laufe des Buches sich selbst und den Leser überrascht.

Und bevor ein falsches Bild aufkommt: Trotz der von mir
empfundenen Schwächen in der Anlage der Charaktere und einer teilweise etwas richtungslos
erscheinenden Ermittlungsarbeit ist „Anonym“ ein echter Pageturner, den ich innerhalb
von 24 Stunden durchgeschnitzelt habe.

Wer Erwachsenenkrimis
von Ursula Poznanski kennt (und ich kenne sie alle, habe aber von Arno Strobel
bisher leider kaum etwas gelesen), der weiß, dass es hier immer etwas deftiger zugeht.
„Anonym“ macht da keine Ausnahme. Obwohl ich nicht allzu zartbesaitet bin,
stieß ich zur Hälfte auf eine derart intensive Leidensszene, dass ich die
Abkürzung übers Vorblättern nehmen musste. Selten ist mir ein Kapitel so unter
die Haut gegangen.

Nicht ganz zufrieden bin ich mit der Aufklärung dieses Falles.
Das Rätsel um Trajan birgt einige Umstände, bei denen Kommissar Zufall sehr eifrig
seine Hände im Spiel hatte. Gegen Ende musste ich die Luft ein paar Mal in
scharfen, ungläubigen Zügen durch die Zähne pressen. Schaut man über einige
recht abenteuerliche Umstände hinweg, bleibt ein leserausch-spannender,
teilweise brutal wirklichkeitsgetreuer Kriminalfall, der mit einem in Teilen
offenen Ende von der vordergründigen Handlung auf eine menschliche, aber menschenverachtende
Gaffermentalität lenkt.

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Anonym von Ursula Poznanski und Arno Strobel 
Gebundene Ausgabe: 384 Seiten 
Verlag: Wunderlich
Erscheinungstermin: 21. September 2016 
ISBN: 978-3805250856

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