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1954. Düsseldorf macht sich bereit, um „ihn“ wie ein Staatsoberhaupt zu empfangen. „Ihn“: Thomas Mann. Zwei Jahre zuvor, nach neunzehnjährigem Exil, ist dieser in Deutschland unterwegs, um das Publikum, dem noch der Krieg in den Knochen sitzt, für die heiteren Memoiren des Hochstaplers Felix Krull zu gewinnen. Man erinnert sich an die großen Werke des Nobelpreisträgers, aber auch an die eindringlich warnenden Worte, die Thomas Mann während des Zweiten Weltkriegs aus dem Exil per Radio an die Deutschen gerichtet hatte. Bekannt sind ebenfalls die Schrullen und Vorlieben des 79jährigen. Zu erwarten sei einer der empfindlichsten Schriftsteller. Weltweit. Und man befürchtet Ungemach: Nicht alle Zeitgenossen sind mit Manns Emigrantendasein einverstanden. So rüstet sich der Breidenbacher Hof, den Schriftsteller mit allen Finessen zu verwöhnen und etwaige Misslichkeiten bereits im Vorfeld auszuräumen: Um einen erquickenden Schlaf zu ermöglichen, werden die Türen seiner Suite mit dickem seidigen Polsterstoff überzogen und tröpfelnde Wasserhahndichtungen ausgewechselt. Sogar Generalfeldmarschall Kesselring, ein ansonsten gern gesehener Besucher, der mit seiner Gattin im Hotel logiert, wird vergrault, um ein kompromittierendes Zusammentreffen mit dem teuren Ehrengast zu vermeiden. Der erscheint pünktlich mit dem Zehnuhrzwölfer.
Und mit ihm Katia und Erika, die eine bescheiden und mit wohltuend sedierender Wirkung auf Tommy, die andere extravagant und nervenaufreibend für Personal und Hotelgäste. Erika bemerkt schnell, dass sich zufällig auch Klaus Heuser im Breidenbacher Hof einquartiert hat, um nach achtzehn Jahren in Asien seinen betagten Eltern in Düsseldorf einen Besuch abzustatten. Zusammen mit seinem indonesischen Geliebten Anwar Batak hat man ihn in der vierten, nicht renovierten Etage einlogiert; die Beletage schien nicht schicklich. Aber dort genau in der Dachstube wird Klaus Heuser heimgesucht, nicht etwa von Thomas Mann, der erst sehr viel später von diesem Gast erfährt, sondern von der sogleich alarmierten Erika, die alle Überredungskunst einsetzt, um die letzte Liebe ihres Vaters aus Gründen der vermeintlichen Schonung zum Umzug in eine anderes Hotel zu bewegen. Enervierender als sie ist für Klaus Heuser indessen der Besuch des Kölner Germanisten Ernst Bertram. Über den Dächern Düsseldorfs versucht der einstige Freund Thomas Manns und Taufpate von dessen Tochter Elisabeth Heuser zu bewegen, ihn in den Augen des großen Schriftstellers zu entnazifizieren und zu rehabilitieren. Erschöpft von diesen Zudringlichkeiten, rettet sich Heuser mit seinem Gefährten in das Gasthaus zum Goldenen Ring – um dort von Thomas Manns ungeliebtem Sohn Golo, dem Beißer, traktiert zu werden…
Auf faszinierende Weise gelingt es Pleschinski in „Königsallee“, Zeitgeschichte mit Werk und Biographie Thomas Manns zu amalgamieren. Er greift damit jenes Verfahren auf, Wirklichkeit und Fiktion bis zur Unkenntlichkeit zu verweben, das Thomas Mann 1906 als genuin dichterische Methode der Wirklichkeitsdarstellung legitimierte. „Die Beseelung“, heißt es in „Bilse und ich“, „da ist es, das schöne Wort! Es ist nicht die Gabe der Erfindung – die der Beseelung ist es, welche den Dichter macht. Und ob er nun eine überkommene Mär oder ein Stück lebendiger Wirklichkeit mit seinem Odem und Wesen erfüllt, die Beseelung, die Durchdringung und Erfüllung des Stoffes mit dem, was des Dichters ist, macht den Stoff zu seinem Eigentum“. Pleschinskis Romangerüst wird errichtet aus realen Fakten: Sorgfältig hat er in Thomas Manns Tagebüchern und Werken gelesen, akribisch im Nachlass Klaus Heusers, in Briefen und Zeitzeugenschaften recherchiert. Entstanden ist ein wunderbarer Roman über den Zauberer und seine letzte Liebe.
1927 hatte sich Thomas Mann auf Sylt in den blutjungen Klaus Heuser verliebt. „An diesem erschütternden Meere“, schreibt er aufgewühlt ins Gästebuch des Hotels, „habe ich tief geliebt.“ Der Siebzehnjährige wird nach München eingeladen. „Nach menschlichem Ermessen war das meine letzte Leidenschaft“, vertraut Thomas Mann 1933 seinem Tagebuch an und fügt hinzu, „ – und es war die glücklichste.“ Noch 1942 betrachtet er sich als „glücklichen Liebhaber“, der gesteht: „Nun ja – gelebt und geliebet. Schwarze Augen, die Tränen vergossen für mich, geliebte Lippen, die ich küßte, – es war da, auch ich hatte es, ich werde es mir sagen können, wenn ich sterbe.“ Die Lebenswege führen beide für lange Zeit auf unterschiedliche Kontinente; ein Wiedersehen gibt es nicht. Aber die liebenswürdigen jungen Gesichtszüge von Klaus werden in die Literatur eingehen: Er steht Pate für die Gestalt des Joseph in der ab 1928 entstehenden „Joseph“-Tetralogie, und er verleiht Felix Krull das gewinnende Äußere. Pleschinski weist in „Königsalle“ nicht demonstrativ auf diese Parallelen hin, und doch werden sie in den mit leichter Hand gezeichneten Figuren und Situationen sichtbar. Eine weitere Hintergrundsfolie ist die historisch nicht beglaubigte, doch von Thomas Mann kunstvoll imaginierte Begegnung Charlotte Kestners mit dem alten Goethe in Weimar. Hier wie dort sinniert ein großer Schriftsteller im siebten Kapitel frühmorgens über sein Schicksal. Dem einen wie dem andern gehen Ruhm und Altersnöte durch den Kopf: „Genie – bin ich das denn“, fragt sich Thomas Mann. „Habe mich wohl selbst schon überlebt. Doch ich bleibe, energisch schon aus Pflicht.“
Die biographisch aufgerüstete fiktive Geschichte versetzt Pleschinski in ein Geschehen, das die 50er Jahre neu aufleben lässt. Um die berühmten Hauptfiguren ist ein Romanpersonal gruppiert, dem die Spuren des Krieges auf ganz unterschiedliche Weise eingraviert sind: Unbelehrbare Nazis und Kriegsgewinnler, Traumatisierte und Hoffnungsvolle agieren inmitten eines Schauplatzes, der mit aussagekräftigen Requisiten ausgestattet ist: Man lebt zwischen Ruinen und schickem Ambiente, fährt Bogward Hansa 800, isst Toast-Hawai, sagt „groggy“ oder „okay“ und hört Wagner auf einem Schallplattenspieler von Schaub Lorenz. Die enormen Spannungen, die sich in dieser Zeit auftun, werden in der Begrüßungsszene sichtbar, zu der sich Düsseldorfs Hautevolee im Breidenbacher Hof versammelt hat: Dem Kulturreferenten missrät die Begrüßungsrede auf Thomas Mann entlarvenderweise zu einer Eloge auf Ernst Jünger, der nicht emigriert, sondern in Deutschland geblieben sei und deswegen dem deutschen Volk mehr zu sagen habe als ein Emigrant. Die giftige „große Kontroverse“ über das Verhältnis von „äußerer“ und „innerer“ Emigration, die das literarische Leben der Nachkriegszeit lange belastet, wird mit einer pointierten Stichwortmontage in Erinnerung gerufen und auf eine Weise reproduziert, die hochkomisch wirkt, aber auch das Peinigende, das dieses Zerwürfnis damals hatte, spürbar werden lässt. „Königsallee“ ist nicht nur ein großartiger Roman über Thomas Mann, sondern auch über die Kultur der Nachkriegszeit.
Königsallee von Hans Pleschinski
Hardcover: 390 Seiten
Erscheinungsdatum: 15.07.2013, 4. Aufl. 2014
Verlag: C. H. Beck
ISBN: 978-3-406-65387-2